am 1. Arbeitstag im neuen Jahr hab ich es genau bis zum Feierabend geschafft – bis ich dann abends ins Bett ging, hatte ich schon Fieber, die Stimme war weg. Grippaler Infekt, der mich bis zu diesem Wochenende an die Couch fesselte. Ich hab in dieser Zeit auch fast keine Zeit vor dem PC verbracht, nur das Notwendigste gemacht. Noch immer huste ich wie eine alte Dampflokomotive. Aber mir gings nicht ums jammern, sondern darum, wie ich die Zeit genutzt habe – neben dem gesundschlafen. Ich bin niemand, der tagsüber gerne Fernsehen schaut. Ich hab den einen oder anderen aufgenommenen Tatort nachgesehen (Franziska!) und irgendwann mal zwischendrin zwei alte Folgen von Emergency Room – die einzige TV-Serie, die mir noch mehr fehlt als irgendwas neues aus dem Star Trek-Universum. Ansonsten hab ich gelesen. Da zurzeit zu Hause nichts leichtes Ungelesenes rumliegt, bin ich den Keller an meine Karl-May-Kiste gegangen und hab das gemacht, was ich seit Jahren schon wollte – einmal noch Band 1 bis 9 nochmal lesen – für die, die es nicht wissen: das ist der Kara-Ben-Nemsi und der Winnetou-Zyklus. Ich hab mit 8 oder 9 Jahren angefangen, „Durch die Wüste“ zu lesen und mich durch ungefähr 40 Bände gelesen. Mit dem Blick des Erwachsenen wollte ich jetzt nochmal da ran – auch gerade angesichts der letztjährigen Debatten um „Neger“ in Pippi Langstrumpf und andere ältere Literatur.

Karl May als Old Shatterhand

Es war ein äußerst spannendes Experiment. Ich habe mit „Winnetou 1“ angefangen, weil dort eigentlich alles beginnt. Dort wird aus dem braven Hauslehrer zunächst der Eisenbahnplaner und dann der Blutsbruder Winnetous. Er erhält dort zunächst den „Bärentöter“, dann in Winentou 2 seinen berühmten „Henrystutzen“, ein 25-schüssiges Repetiergewehr, dessen Erfinder, einen alten Büchsenmacher aus St. Louis, er darauf hinweist, es nicht in Massen produzieren zu lassen, weil er damit Leid und Elend über die Welt brächte, alle Bisons erschossen würde, die Indianer ausgerottet und so weiter. Und klar, der macht das dann auch. Als Kind fand ich die Sprache der Bände nicht wirklich fremd. Es gibt einige nicht mehr gebräuchliche Redewendungen („ich geb es nicht zu“ anstatt „das lass ich nicht zu“) und natürlich werden für die wenigen vorkommenden Farbigen in den USA das Wort „Neger“ verwendet. Ich hab mich beim Lesen gefragt, ob ich da was anders stehen haben wollte, und fand nicht, dass man es aus dem historischen Text herausstreichen sollte. Mit dem heutigen Wissen störte mich das Wort, aber ich glaube, ich hab es einfach nur sehr bewusst wahrgenommen und automatisch in den historischen Kontext gesetzt – die Bücher wurden ja Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben. Ansonsten triefen die Bücher von den überragenden Fähigkeiten des Protagonisten, sodass es als fast nicht zum Aushalten ist.  Unendliche Sprachkenntnisse, akzentfrei, die es ihm auch erlauben, sich als Beduine, Türke auszugeben, kurdisch oder indianische Dialekte lernt er quasi nebenbei, zwischen zwei Rettungsmaßnahmen oder anderen Heldentaten. Und natürlich hat er auch medizinische Kenntnisse, die er rettend anwendet. Die geografischen Kenntnisse sind überragend, auch ohne Karte. Aber trotz allem war es doch spannend. Die Winnetou-Bände hab ich nicht ganz gelesen, das war teilweise wirklich zu viel des Guten, auch der (rettenden)  Zufälle zuviel. Natürlich muss man die Sterbeszene des Apatschenhäuptlings nochmal gelesen haben und selbstverständlich auch die um Winnetous Testament. Ansonsten hab ich doch einiges überblättert. Die ersten 6 Bände hab ich allerdings komplett gelesen. Auffallend ist natürlich seine Darstellung des westlichen Europäers als überlegen den arabischen Protagonisten gegenüber, die Indianer sind eh „Wilde“. Die Arabien- und Balkan-Abenteuer zeichnen ein Bild von Arabern, Rumänen, Bulgaren, Irakern, Kroaten und Montenegriner, das mehr als abwertend ist – Räuber, Mörder, bestechlich, ausgenommen natürlich eine Minderheit, die Jesidi, wo er mit Vorurteilen (Teufelsanbeter) ausräumt (übrigens gibt es über diesen Teil der Bände wohl einen verschollenen Stummfilm, wie in der Wikipedia nachzulesen ist). In den USA gibt es die stolzen Apatschen, in Arabien sind es die Haddedihn-Beduinen. Mit dem kritischen Erwachsenenblick lässt es sich lesen, vieles verstehen, historisch anders bewerten. Warum die Bücher heute keinen Erfolg mehr haben, wird dabei aber auch klar. Allerdings sind die Winnetou-Bände tatsächlich äußerst kritisch gegenüber dem, was „der Weiße“ bei der Besiedlung den Ureinwohnern gegenüber angetan hat, bis hin zu einer fundamentalen Kapitalismuskritik, der Ausbeutung der Bodenschätze. Und ein differenziertes Bild der Siedler in USA. Etwas, das in den Filmen mit Lex Barker und Pierre Brice überhaupt nicht vorkommt, wo eine einfache schwarz-weiß-Malerei vorherrscht. So einfach ist es bei May nicht. Wenn ich mir was wünschen könnte, wäre das eine „Übersetzung“ in eine aktuelle Sprache, die die Bücher auch wieder lesbarer in der heutigen Zeit machen. Die christlichen Botschaften in den Bänden brauch ich nicht, die Abwertung des Islam ist sehr arrogant, bis hin zur Wurst- und Schinkenesserei des Hadschi Halef Omar (und die „Strafe“), allerdings aber auch erklärend und Verständnis fördernd. Ich kann mich gut erinnern, in der Schule bei Klassenarbeiten zum Thema Islam immer gut abgeschnitten zu haben, weil ich durch die Lektüre der May-Bände doch einiges wusste. Und ich wünschte mir eine Neuverfilmung. Wenn „Herr der Ringe“ verfilmt werden kann, dann auch Winnetou 1 bis 3. Alles in allem war es ein interessanter Ausflug in meine Lektüre der Jahre 1975 bis 1982.

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