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Coronazeiten

Die dritte Woche beginnt Morgen, am 6. April 2020. Meine dritte Woche in 99% Kurzarbeit. Die Gehaltsabrechnung ist in dieser Woche per Post gekommen, noch sind die Auswirkungen der Kurzarbeit – für mich ab 21. März – finanziell überschaubar. Ich habe mir gerade noch rechtzeitig einen Aushilfsjob gesucht, die Absagen von Patienten in der Ergotherapiepraxis meiner Frau sind noch überschaubar und wir hoffen so, gemeinsam einigermaßen gut durch diese Zeiten zu kommen. Existenznöte – noch sind sie nicht wirklich nötig. Noch können wir darüber sinnieren, dass und wann wir den Pfingsturlaub auf die großen Ferien verschieben.

Mein Lebensrhythmus hat sich verschoben – bisher stand ich früh um 3 Uhr auf, wachte fast immer von alleine auf – jetzt brauche ich den Wecker, um um 7 Uhr aufzustehen.  Auch die Kinder brauchen einen Takt, den ich vorzugeben habe. Wir haben keinen hübschen Tagesplan – ich strukturiere manuell. Der Jüngere hat Schulaufgaben, der Größere sucht gerade einen neuen Weg. Dreimal die Woche hab ich ab 18 Uhr den erwähnten Nebenjob – Regale einräumen bei REWE – das wirft den Tag nochmal ganz anders durcheinander, weil meine Frau nicht immer um 18 Uhr Feierabend hat.  Ich muss vorkochen oder was Fertiges in den Kühlschrank oder auf den Herd stellen. Und nicht alles, was Pubertierende in ihren Zimmern machen, hat derzeit mit Schule zu tun.

Die Tage sind kürzer geworden. Anders. Voller und leerer, gefüllt mit neuen und alten Dingen. Ich lese tagsüber. Schaue fern. Ich arbeite in einem Supermarkt und fülle Dinge in Regale, die ich nie kaufen würde, bei denen mir schon die Existenz des Produkts massives Kopfschütteln hervorruft. Wusstet Ihr, wie viele „Fix-Produkte“ es gibt? Es ist schier unglaublich, wie trotz diverser Rezepteseiten im Netz Leute Essen nicht mehr herstellen können, wenn Sie nicht den Inhalt eines Beutels mit Gewürz und Farbstoff in einen halben Liter Wasser werden können.  Und meine „richtige“ Arbeit fehlt mir.

Mein Onkel, mit dem wir noch Vaters Geburtstag im März zusammen gesessen haben und über Patientenverfügungen diskutiert haben,  ist an Corona gestorben, seine Frau liegt damit im Krankenhaus und wir sorgen uns alle um sie. Und natürlich sorgen wir uns um uns. Im Supermarkt bin ich vielen Kontakten ausgesetzt und nicht jede_r Kund_in weicht zur Seite. Zum Glück wird es nach 19 Uhr ruhiger. Meine Frau kommt in viele Haushalte und in Pflegeheime bei Hausbesuchen – auch da ist sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Schutzkleidung ist für sie nur schwer und mit erheblichen Kosten zu besorgen. Und die Unsicherheit, wie lange sie noch arbeiten darf – aktuell solange es medizinisch nötig ist, also ein Rezept vorliegt – treibt uns um. Nicht wegen der Einnahmen – sondern wegen der Frage, was dann mit ihren Patienten wird, wenn sie nicht hinkommen darf. Denn natürlich kann sie in personell nicht adäquat ausgestatteten Pflegeheimen nicht nur therapeutisch arbeiten – sondern auch pflegerisch, wenn nötig.  Natürlich ist der Hausbesuch in manchen Haushalten eine willkommene Abwechslung, wenn man nicht mehr rauskommt und die polnische „Haushaltshilfe“ schlecht deutsch spricht und versteht.

Meine Eltern bleiben zu Hause – ich gehe einkaufen. Nach 35 Jahren wieder die Nachfrage: Mutti, es gab keine 6er Kaffeefilter – brauchst du dringend welche oder reicht es auch, wenn du erst nächste Woche welche hast? Klopapier ist zum Glück bei uns nirgendwo ein Problem – im Notfall weiß ich, wo ich welches bekomme. Aber schon der Gedanke an die Aussicht, keines zu bekommen und dann auf der Schüssel sitzend keines zu haben,  ist entwürdigend. Deshalb hamstern auch viele Leute.

Währenddessen treibt einen die Frage um, was an all diesen Grundrechteeingriffen gerechtfertigt ist. Und man sieht natürlich die Blüten, die Übereifrige treiben. Sieht die Gefahr, dass nicht alle Maßnahmen zurückgenommen werden, die Probleme beim Datenschutz, die Frage, wie weit ist diese Gesellschaft bereit zu gehen, um die Gefahr für die Gesundheit abzuwehren – und was bekommen wir an Rechten frewillig zurück und was müssen wir uns zurück erkämpfen. Ab wann ist Kritik gerechtfertigt? Wann kann und wann will sie gehört werden? Ich erlebe gerade in den Sozialen Medien viele Leute, die gar nicht darüber nachdenken wollen, dass die Maßnahmen der Regierung, der Kreis und Gemeinden nicht gerechtfertigt sein könnten. Von Verwaltungen mal ganz abgesehen.

Vieles ist anders. Und doch sind meine, unsere Probleme First-World-Probleme. Die Wahrscheinlichkeit, hier, im reichen Westen und im weißen Mittelstand zu überleben, ist höher als anderswo.  Das Gesundheitssystem ist nicht auf eine Pandemie vorbereitet – aber irgendwie machen wir das Beste draus und noch fühle ich mich noch nicht unsicher. Ja, es gibt Missstände in Pflegeheimen , noch mehr als schon bekannt. Viele andere Dinge werden offenbar – zum Beispiel, dass geschlossene Grenzen illegale Beschäftigung von Pflegenden aus Osteuropa in Haushalten behindern. Und dass wir dies seit so vielen Jahren hinnehmen. Inklusive der Steuerhinterziehung.

In meinem Kopf ist ein Kaleidoskop an Dingen, Gedanken, Ideen und Sichtweisen zu dieser Krise, ihren Folgen und den gesellschaftlichen Ursachen für die Missstände. Zu den nötigen Maßnahmen und wo überzogen wird (der Austräger des kostenlosen Werbeblattes hier im Ort wurde belehrt,dass er ohne Genehmigung das Blättchen nicht verteilen darf – was schlicht nicht wahr ist) und wo das alles hinführen wird. Es verändert sich alles nahezu täglich, wir schwanken zwischen Optimismus, dem Versuch,Normalität herzustellen und der Sorge, dass im nahen Umfeld Menschen erkranken – oder gar wir selbst.

Wir werden lange an diese Tage zurückdenken und was sie verändert haben. Wir müssen aber alle darauf achten, dass wir die Veränderungen mitgestalten können. Ein einfaches „Weiter so“ kann es hinterher nicht geben. Dazu ist zu viel offensichtlich geworden.

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