Früher war es einfach. Die Begegnungen mit Alltagsrassismus, Antisemitismus waren selten und in der eigenen Filterbubble einigermaßen erträglich. Heute begegnet man ihnen überall, denn es gibt Orte, an denen man sie trifft und diese Orte sind Kommentarspalten von Zeitungen, Blogs, Foren, sozialen Netzwerken und neuerdings sogar in der eigenen Partei. Sie, von denen man früher höchstens in der Zeitung gelesen hat oder aus der Ferne bei einer Anti-Nazi-Demo – sie äußern sich heute dort, wo ich sie beinahe wahrnehmen muss.
Ich hab mich immer schon in einem Umfeld bewegt, dass kein klassisches grünes ist. Ich war in der Jugend im Karnevalsverein, habe dort Blasmusik gemacht. Ich habe seitdem einen Faible für Polkas und Marschmusik – wenn ich sie auch nicht aktiv anhören würde – aber in Festzelten und im Biergarten stört mich das nicht, ich kann sogar mitpfeiffen. Ein Umfeld, in dem man auf Sexismus, Rassismus trifft. Ich habe früh erkannt, was mich stört und auch ziemlich schnell, wo ich was ändern kann und wo sich der Einsatz nicht lohnt – weil er strukturell so verhärtet ist, dass kaum eine Änderung ohne Schock möglich ist. Mit einer der Gründe, warum ich Veranstaltungen wie politische Aschermittwoche nicht wirklich anziehend finde. Denn so ist es auch im Karneval – platt, böse, undifferenziert. Ein Ort, auf dem auch noch über den plattesten Spruch gelacht wird. Und dazu (viel) Alkohol getrunken wird. Aber ich wollte Musik machen und ich bin aus familiären Gründen an diesem Ort gelandet. Auch heute noch schaudert mich manches im Rückblick – aber es gibt viele Menschen, die ich aus dieser Zeit auch vermisse. Schon die Struktur Elferrat, der ausschließlich aus Männern besteht, Garde“mädchen“, die in kurzen Röcken die Beine hochwerfen und Fastnachtsorden, die von eben diesen Mädchen mit „Küsschen“ überreicht werden – brrrrr. (was mich in der Pubertät nicht immer gestört hat…)
Ich war auch im Gesangsverein. In meinen Zwanzigern – da war ich schon politisch aktiv. Es war die Schwemme der „modernen Chöre“, man sang also Dinge wie „Everyting I DO, I Do it for you“ oder auch „Dos Kelbl“ (Donai, Donai, Donai) – aber viele dieser jungen Chöre hingen an der Struktur altehrwürdiger Gesangsvereine. Manches Mal traf man zusammen, bei Vereinsfesten zum Beispiel oder bei Vereinsdiensten bei Marktfest. Ich erinnere mich gut an einen Abend, in der Zeit, als der Gesamtchor für das 150-jährige Vereinsjubiläum geprobt hatte. Wir saßen in den Vereinräumen gemeinsam, beim anschließenden gemütlichen Beisammensein und plötzlich stimmten drei/vier der älteren Herren bierselig das Horst-Wessel-Lied an. Ich bin gegangen, mein Vater, Vorsitzender, hat denen dann ordentlich die Meinung gehupt und klar gemacht, dass das nicht geht. Aber es war präsent. Denn du hast natürlich auch mit diesen Menschen „mal“ über politische Themen gesprochen und die waren zwar alles CDU-Wähler, aber die Gesinnung passte in den klassischen rechtsaußen Themen (Migration, Bundeswehr, Meinungsfreiheit, ..) eher auch dahin. Alles honorige Mitglieder der Gesellschaft. Teilweise örtliche Unternehmer. Im Gespräch außerhalb dieser Themen auch das, was ich so als „nette Bekannte“ bezeichnen würde. Nicht auffällig.
Aber irgendwie war es nicht so präsent. Nicht dauerhaft. Es gab ja wenig Anlässe, politisch zu diskutieren, die Gespräche drehten sich meistens um andere Themen, hatten eher privaten Charakter oder hatten das Vereinsleben zum Thema. Ich habe im klassischen Lebensmitteleinzelhandel gelernt. Das ist auch nicht der Ort, an dem du mit Kolleg_innen allzu viel Verbündete in Fragen des Atomausstiegs oder Migration findest, sondern sogar ja dann, wenn das Thema auf Ladendiebstahl kommt, du auf einmal mit Ansichten konfrontiert wirst, die Du oft genug nicht erwartest hast – von Vorurteilen gegen die Auländer, die ja alle nur klauen, weil sie das nicht anders kenne, geprägt. Diskussionen darüber: unmöglich. Nicht nur, nicht überall, nicht andauernd – aber immer mal wieder bei Einzelnen. Man konnte wegschauen, es hatte kein Relevanz. Man konnte über andere Dinge reden, es gab ja auch oft keinen Anlass über was anderes zu reden. Aber irgendwie wusste man auch, es war da. WIe der Lärm von der Autobahn, den man auch nicht hört.
Mit dem Aufkommen von sozialen Netzwerken und Kommentarspalten hat sich das geändert. Ich lese und schreibe gerne Leserbriefe und fand es schön, dass man Artikel von Zeitungen direkt kommentieren kann. Aber plötzlich sind all diese Meinungen schwarz auf weiß präsent in meinem Leben. Heute morgen ein Bericht über zwei Filme über das „Deutschsein“ in Spiegel Online. Kommentar:
verordnetes „Deutsch nix gut“. Es ist schon beschämend, wie unsere Medien und Politiker „Deutsch sein“ als Untugend verklären. Eine derartig kampagnenhafte Herabwürdigung der nationalen Identität könnte irgendwann ins Gegenteil umschlagen – aus der Geschichte leider nichts gelernt…..
Oder die ka-news – ein Bericht über Einreisebeschränkungen der Shweiz für Bürger_innen aus der EU:
Deutschland sich ne scheibe von abschneiden. Abee wir lassen ja alles und jeden ins land. Haben ja genug geld für die armen verlorenen zuwanderer. *kotz*
Da schwappt auf einmal etwas durch meinen Filter, das ich da nicht durchlassen wollte. Etwas, das ich nicht sehen wollte. Und so bekommen Nachrichten wie „Jeder vierte Deutsche ist ausländerfeindlich“ eine andere Relevanz. Diese Ausländerfeindlichkeit – jetzt ist sie nicht mehr weit weg, jetzt ist sie lesbar. Ich kann nicht irgendwo etwas kommentieren – zumindest nicht im Bereich dieser Nachrichten – ohne dass ich nicht damit konfrontiert werde. Es ist sichtbar und das erschreckt mich manches Mal schon. Die Frage, die man sich unzweifelhaft stellt ist: überlass ich diesen Leuten die Kommentarspalten der Zeitungen – oder stelle ich mich ihnen entgegen – also mittels Kommentaren. Ich tue das – nicht andauernd und auch nur in einem einzigen Medium, den ka-news, aber ich finde, man kann nicht alles unkommentiert lassen, was diese Leute von sich geben. Ich habe mir angewöhnt, in diesem Feld sehr sachlich zu argumentieren – und persönliche Angriffe zu ignorieren. Es hilft mir meine umfassende Erfahrung vieler Jahre im Internet und vielen Foren, gerade zu emotionalen Themen wie Trennung und Scheidung.
So wie es auf der Straße keinen Fußbreit gegen darf, muss es auch im Netz Gegenaktionen geben – vor allem im – wegen der Reichweite – öffentlich-wirksamen Bereich wie Kommentarspalten der Zeitungen und Zeitschriften. Immer wenn sie meinen, sie seien alleine, denken sie, sie haben die „schweigende Zustimmung“. Auch diejenigen, die die Kommentarspalten betreuen, kann man damit nicht alleine lassen. Denn diese Sichtbarkeit bewirkt ja auch was: es wird klar, dass es keine Sache ist, die weit weg ist, irgendwie im Osten vielleicht noch, sondern hier, mitten unter uns. Die Piraten haben erlebt, was passiert, wenn man sich nicht mit aller Deutlichkeit diesen Typen entgegen stellt. Zulange die Debatten laufen lässt. Für die grüne Partei dachte ich, wäre das undenkbar. Aber auch bei uns gibt es Islamophobe, Antisemiten. Sind da, mitten unter uns. Wir sollten ihnen keinen Raum geben – nirgendwo. Sondern nur eines wissen: bei uns gibt es dafür keinen Raum. Das erfodert auch den Mut, das auch anzusprechen und auszuhalten. Denn eines hab ich gelernt, unter all denen, im nicht klassischen grünen Umfeld: tust du es nicht, schafft es sich von ganz alleine mehr und mehr Raum.
(und um Missverständnissen vorzubeugen – dieser Artikel bezieht sich nicht auf den vorherigen)
Schade, daß neulich die Onlinedebatte über Antisemitismus von Dir, lieber Jörg, abrupt abgebrochen worden ist durch Herausnahme. Jetzt kommt sie wieder durch die Hintertür. Ja, leider gibt es Antisemitismus zu etwa 20 Prozent in der gesamten Gesellschaft, also auch in unserer Partei (?); leider (?). Wir als Grüne sind eben auch nicht besser oder schlechter als andere oder der Durchschnitt. Ich jedenfalls, auch ehemaliger Sänger und Chorleiter, halte mich für Durchschnitt und glaube, daß vieles in der Politik mit Bildung zu tun hat. Und da mangelt es leider.
Ja, ich musste bzw. habe eingesehen, dass es für den Gesamtprozess nicht passend war. Leider gibt es das auch bei uns. Uns es ist ein ERgebnis der massiven Mitgliederzunahme – und unserer basisdemokratischen Strukturen – die viele glauben, ohne unsere Regeln – demokratischer Konsens, Frauenstatur, etc. – nutzen zu können.
Jörg, willkommen im Leben.
Ich habe diese Dinge schon lange in meinem Umfeld, weil ich eben NICHT wegsehe, weil ich durchaus hinhöre, wenn jemand dummes Zeug erzählt. Jemand, der das Horst-Wessel-Lied anstimmt? Kriegt von mir eins übergebügelt, das die Heide wackelt – und die hat auch schon gewackelt.
Ja, ich bin ein Held. 😛
Fakt ist aber: Wer in den guten Zeiten wegguckt muss sich nicht wundern, wenn in den schlechten auf einmal 3 Leute mordend durch die Republik ziehen können und keiner kriegts mit.
Gerade gegen Rassismus und Intoleranz ist ständige Aufklärung wichtig und die kann und darf man dem Staat nicht alleine überlassen, da sind wir alle gefragt. Und da muss man notfalls auch schon mal sehr unbequem sein, auch wenns schwerfällt.
Es hat zumindest einen Grund, warum ICH auf jeder Familienfeier inzwischen himmlische Ruhe habe 😉
Die Antisemitismusdiskussion verläuft immer nach dem gleichen Schema:
1. Israel ist gut.
2. Palästina ist böse.
3. Wer das anzweifelt, ist automatisch Antisemit.
Genauso fällt die (ziemlich flache) Kritik der Grünen an der Linken bezüglich Israel aus, wie sie genauso auch von CDU-Leuten populistisch verwurstet wird.
Das Problem ist nur, wer euch sowieso schon total schlecht findet und euch eh nicht vertraut, der wird sich in seinen antisemitischen Vorurteilen auch noch bestätigt fühlen. Eure völlig blinde Israel-Hörigkeit ist Teil des Problems. Ihr wollt es nur nicht wahr haben.
Eine typisch antisemitische Argumentationskette. Israel wird überall in der Welt, gerade auch in Deutschland und bei uns Grünen für seine Politik in der Palästinenserfrage und Seidlungspolitik kritisiert. Sie können gerne in diesem Blog nach „Israelkritikerin“ suchen. Als einen Beleg von vielen.
[…] abzuwerten – das ist eine typische Art und Weise, wie ich sie hier im Artikel “Sie sind da” beschrieben […]