Ich erkläre meinen Rücktritt aus dem Parteirat von Bündnis 90/Die GRÜNEN Baden-Württemberg
Die Gründe sind vielfältig aber letztendlich muss man es so sagen: die rote Linie ist überschritten. Es gibt persönliche Gründe, bei denen es darum geht, dass es familiäre Dinge gibt, um die ich mich stärker kümmern muss. Aber auch in den letzten Jahren gab es immer wieder solche Anlässe und es ist mir stets mithilfe meiner Frau gelungen, die mir da im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken frei gehalten hat, dies mit meiner politischen Tätigkeit in der Grünen Partei zu vereinbaren. Ich habe allerdings keine Motivation mehr, diesen Spagat weiter zu leisten. Mein Glaube an die Wirksamkeit von Parteipolitik in dieser Partei hier hat gewaltige Einbußen genommen. Darüber hinaus glaube ich, dass ich persönlich an einem Punkt bin, an dem mir es vermutlich gut tut, das eine oder andere von außen zu betrachten, selbst etwas zur Ruhe zu kommen und mich auf die Tätigkeiten zu beschränken, die ich sonst noch leiste. Und auch der Beruf leidet darunter, darüber hinaus mache ich eine Fortbildung und auch die erfordert nicht nur Zeit an Wochenenden, an denen Seminare stattfinden, sondern eben auch anderweitig Zeit. Hinzu kommt, dass die Inhalte der Fortbildung teilweise auch mit der Art der Auseinandersetzung kollidiert, wie sie politisch letztendlich stattfinden. Und ganz zum Schluss stellt sich eben auch die Frage: warum sollte ich Zeit in einem Amt verbringen, das nicht mehr dazu da ist, politisch zu gestalten, mich mit Leuten rumschlagen, die mich nicht mögen – ohne dass dabei was rauskommt bzw. die Partei und die Landesregierung Dinge tun, die ich aus tiefster Überzeugung ablehne? Die mich nicht mögen, weil ich nicht stillschweigend zustimme und mich wehre gegen diesen Kurs, der für mich so wenig mit Grün zu tun hat, als wären sie zwischenzeitlich in einer anderen Partei? Ich bin der festen Überzeugung: wäre heute 1980, die GRÜNEN würden die Politik der GRÜNEN 2015 zum Anlass nehmen, sich zu gründen.
Zu den politischen Gründen:
Asyl -und flüchtlingspolitik
Ganz oben steht der Umgang mit Geflüchteten, vor allem in der Frage der Geflüchteten vom Balkan. Seit gut drei Jahren ist abzusehen, dass sehr viele Menschen zu uns kommen werden. Vor rund drei Jahren hat die LEA in Karlsruhe die ersten Außenstellen eröffnet, Außenstellen, in denen Menschen unter unwürdigsten Bedingungen untergebracht waren. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, für die der Landkreis zuständig ist, erfolgt(e) dann ebenfalls – da war die Not noch nicht so groß wie heute, an Orten, für die man sich regelrecht schämte. Ich habe 2013 schon einmal dazu gebloggt. Die Situation, vor der wir heute sehen, war absehbar. Absehbar, dass der Krieg in Syrien nicht enden wird, absehbar, dass die Menschen irgendwann den Weg zu uns finden. Auch die grüne Landesregierung hat sich mindestens 3 Jahre lang geweigert, Die Lage anzuerkennen, Maßnahmen zu ergreifen, Vorstöße verliefen im Landesvorstand ebenso erfolglos wie Malscher Gemeinderat – man war nicht bereit, mehr Geld auszugeben, Vorsorge zu treffen, von der CDU und FDP nach den Asylrechtsverschärfungen abgebauten Infrastruktur zu erneuern. Im Gegenteil – man schloss den Asylkompromiss und sprach von „substanziellen Verbesserungen“ und nannte in diesem Zusammenhang die geplante Verkürzung der Residenzpflicht und des Beschäftigungsverbots, die Aufweichung der sogenannten Vorrangprüfung und die Abschaffung des Sachleistungsprinzips.“
Was ist davon übrig?
Die Verlängerung der Internierung in Erstaufnahmeeinrichtungen macht einen der Eckpunkte des Asylkompromisses vom letzten Jahr, die Aufhebung der Residenzpflicht, zur Makulatur
die Einführung von Sachleistungen für „Balkanflüchtlinge“ steht im Gegensatz zur Abschaffung vom Sachleistungsprinzip
Die Gesundheitskarte wurde einkassiert
Wie kann es angesichts dieses Ergebnisses weitere Überlegungen für die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer geben? Und WANN endlich äußert sich Kretschmann und gesteht ein, dass er aufs Glatteis geführt wurde?
Baden-Württemberg hätte ausreichend finanzielle Mittel, sofort ein Sonderbauprogramm aufzulegen, Wohnraum offensiv aufzukaufen, anstatt Eigentümer von leerstehendem Wohnraum mit Zwangsenteignung zu erpressen, wie es Palmer in Tübingen vorexerziert hat. Stattdessen belegt man Hallen, baut Zelte und für den Winter gibt es immer noch keinen Plan, wie man all das bewältigen will. Ich befürchte massive Einschränkungen für Schutzsuchende vom Balkan – vor allem die Roma. Hinzu kommt die Sprache im Zusammenhang mit den Geflüchteten. Grüne MdLs benutzen die Naturkatastrophenvergleiche wie „Flut“, „Strom“ und so weiter. Kretschmann spricht von Gutmenschentum, findet das „Karlsruher Modell“ gut und all das scheint harmlos im Vergleich zu dem zu sein, wie man in den Fraktionssitzungen darüber spricht, wie berichtet wird. Ein humanitärer Winterabschiebestopp für Roma ist nicht zu erwarten.
MdLs, mit denen ich gesprochen habe, schwadronieren schon wieder von Verbesserungen, die man „erkaufen“ könnte, wenn man den neuerlichen Vorschlägen zur Ausweitung der sicheren Herkunftsländer zustimmte. Wenn es CDU/CSU und der SPD nicht passt – wird jedes Verhandlungsergebnis obsolet und wieder einkassiert wie gerade aktuell – aber das scheint nebensächlich. Und ist es eigentlich Zufall, dass erneut die Roma die Leidtragenden dieser schwarzrotgrünen Politik sind?
Der kurzfristige Aufnahmestopp vom Donnerstag schlägt dann dabei noch dem Fass den Boden aus und ist schlicht ein Skandal. Hätten alle anderen 15 Bundesländer das ebenfalls getan, die teilweise in ähnlichen Situationen sind – Deutschland hätte einen Aufnahmestopp erklärt.
TTIP
Die grüne Landesregierung setzt sich weiterhin dafür ein, dass man TTIP gestalten könne. Widerstand dagegen gibt es nicht – obwohl noch nicht einmal MdBs die Papiere dazu zu sehen bekommen. Offenbar hat man sich mit diesem undemokratischen Verfahren nicht nur abgefunden, sondern findet das irgendwie okay.
Gigaliner
Dass auf Druck Daimlers nun doch entgegen dem Koalitionsvertrag Gigaliner in BW fahren dürfen, ist ein Hinweis darauf, wie stark der Einfluss der Wirtschaft auf Entscheidungen der Regierung ist. Das passt dann ganz gut zu der Zustimmung zu TTIP, der Wirtschaftsfahrt in den Iran, der gerade den Luftraum für Russland nach Syrien(!) freigegeben hat und so weiter.
Gemeinschaftsschule
Die von uns geforderte Gemeinschaftsschule ist nur ein Abklatsch der Schule für alle, die wir gefordert haben. Es ist zwar wundervoll, was da in den Schulen geleistet wird. Aber was ist die Leistung wert, wenn unter tätiger Hilfe geheiligt wird, dass aus einer Schule für alle dann doch einfach nur ein Ersatz für die Hauptschulen geschaffen wird. Die SPD erhält das G9, die SPD erhält das Gymnasium und seine Sonderstellung – und vor allem: mit der Realschule wird ein Konkurrenzsystem am Leben erhalten und sogar gefördert, das verhindert, dass eine Ganztagesgemeinschaftsschule zur Regelschule in BW werden wird. Es wird ein wenig besser sein als bisher – aber es ist kein großer Wurf für eine Bildung für alle und mit gleichen Chancen für alle. Ein Schrittchen, mehr nicht. Allerdings ein teurer Schritt.
Industrie 4.0
Der Einsatz der Landesregierung für Industrie 4.0 ist lobenswert. Nicht lobenswert ist, dass sie vergessen, dass es auch Gute Arbeit 4.0 dazu geben muss. Jeglicher Vorstoß dahingehend wird blockiert.
Windkraft
Das völlig blauäugige Verfahren, die Restriktionen und die von oben herab verordneten Weisungen haben im ganzen Land den Widerstand förmlich heraus gefordert. Die Gegenargumente sind seit Jahren bekannt, ich bin hier in der Debatte vor Ort auf dieselben Argumente (und dieselben Leute) wie Anfang 2001 gestoßen, als es um Windkraft in Ettlingen ging. Die Antiwindkraftinitiativen sind seit Jahren gut vernetzt. Die Gegenargumente bekannt. Auf Infraschall, Vogelschlag und so weiter wäre eine Informationskampagne im Vorfeld angebracht gewesen. Darauf gab es weder eine Vorbereitung noch eine Antwort – und genau das ist einer der Gründe, warum wir weiterhin Schlusslicht sind.
Bundespolitik
Das Agieren der Landesregierung in der Bundespolitik muss als unsolidarisch gegenüber den anderen Bundesländern gewertet werden. Wir sind zwischenzeitlich so eine Art Grüne CSU, also nicht inhaltlich, aber in der Rolle – gerieren uns unabhängig und haben dazu noch mit Leuten wie Boris Palmer Leute, die so eine Art Wellenbrecher spielen, extreme Positionen verbal austesten.
Fazit:
Natürlich gibt es auch Gutes und es sind viele Verbesserungen gegenüber schwarz-gelb passiert. Nur: all das wiegt das nicht auf, was für mich nicht mehr auszuhalten ist. Nicht in verantwortlicher Position, nicht in einem Parteirat, der faktisch keine eigenen Inhalte mehr setzt. Eine Vision über den Tag hinaus ist nicht erkennbar, die Politik ist kein Dreiklang mehr aus Regierung, Fraktion und Partei, sondern ein Einklang. Und selbst verschiedene Tonhöhen werden nicht mehr geduldet, sondern bekämpft. Jede Kritik ist „die Arbeit der Opposition machen“, Kretschmann will anstatt einer basisdemokratischen Partei eine Partei, die „keine Besserwisser“ kennt, wie er das nennt. Bei allem Verständnis dafür, dass Regierungsjahre kein Zuckerschlecken für Parteien sind, zumal einer Partei, die viele Inhalte formuliert und diskutiert – es braucht den Diskurs und die Auseinandersetzung auch in der Öffentlichkeit. Die findet nicht statt, wird nach meinem Empfinden unterdrückt.
Für mich bedeutet all dies, dass ich zwar (noch) Grüner bleibe, aber darüber hinaus keine Funktion einnehmen kann und werde. Natürlich werde ich mein Mandat im Malscher Gemeinderat weiter engagiert ausüben. Auch auf regionaler Ebene beobachte ich, dass ein Geist der Unsolidarität herrscht, in der Frage des Kampfes gegen die hier in der Region noch immer marschierenden Neonazis und Rassisten erkenne ich fast keine aktive grüne Beteiligung mehr, von der Grünen Jugend und einzelnen Mitgliedern abgesehen. Stattdessen gibt man Geld…Als Pegida in Stuttgart lief, hat der ganze Landesverband mobilisiert- dass seit Februar welche in Karlsruhe laufen, interessiert auf Landesebene offenbar keinen Menschen, geschweige denn dass es eine Unterstützung gäbe. Mein Engagement dagegen wird mit viel Misstrauen beäugt – zumal ich von Anfang erklärt habe, dass ich all das nicht als Grüner tue, sondern als engagierter Bürger gegen rechts. Rassismus in den eigenen Reihen wird dagegen totgeschwiegen, anstatt sich mit diesen Leuten auseinander zu setzen.
Ich habe mich von dieser Partei entfernt, diese Partei hat sich von mir entfernt. Ob es weiterhin einen gemeinsamen Weg geben wird – das wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen. Nichts ist mehr ausgeschlossen. Es kann auch sein, dass meine grünen Jahre vorbei sind.
Und so sehr ich auch gedacht habe, ich hätte ein Mandat gewollt – heute bin ich froh, dass es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Ich weiß nicht, wie ich ein Mandat mit meinen Überzeugungen in Übereinstimmung bekommen würde. Im Grunde genommen wäre es gut, wenn die GRÜNEN in BW nicht mehr an die Regierung kämen. Ich hab ne Zeitlang gedacht: naja, mit Mappus wäre es viel schlimmer. Das stimmt. Nur – was die GRÜNEN im Ländle einem Teil der Bundespartei und 15 anderen Landesverbänden sowie Mitgliedern zumuten – das hat imho weitaus größere und eklatantere Auswirkungen als eine Landesregierung, die man auch aus der Opposition heraus stellen kann. Als Beispiel gilt das Befeuern der Steuerdebatte im Bundestagswahlkampf oder das völlig unverständliche Agieren in der Frage der Tierversuche oder dem Asylkompromiss. Hier in Baden-Württemberg ist offenbar jede grüne Position zur Verhandlungsmasse geworden. Und was das für jeden Satz im neuen Wahlprogramm bedeutet, kann sich dann jedeR selbst ausrechnen.
Möglicherweise bin ich nicht regierungsfähig. Möglicherweise bin ich ein grüner Exzentriker. Ich spüre nur: meine persönlichen Grenzen sind erreicht, fühle mich in meiner Meinungsfreiheit innerparteilich eingeschränkt. Mit Beginn der Regierungsübernahme vor nun knapp 5 Jahren haben Linke in der Partei immer gefordert, dass eine „Politik des Gehörtwerdens“ auch im Inneren gelten müsse. Dies findet nicht statt. Gleichzeitig merke ich, dass ich anecke und mich permanent in Auseinandersetzungen befinde. Das hat auch etwas mit mir zu tun und auch dieses muss ich herausfinden – z. B. ob etwas an dem Vorwurf des Selbstdarstellers dran ist. Das möchte ich nämlich nicht sein und möglicherweise muss ich mein eigenes Verhalten und Agieren an einigen Punkten ändern. Herausfinden kann ich das aber nur, wenn ich nicht permanent damit beschäftigt bin, meine Position und meine Handeln zu verteidigen und zu erklären.
Ich weiß, es gibt Grüne, die diesen Schritt für falsch halten, mit der einen oder dem anderen habe ich meine Gedanken im letzten Jahr geteilt und es wurde die Bitte an mich heran getragen, doch wieder für den Parteirat zu kandidieren. Man brauche eine Stimme wie die meine. Das schaffe ich leider nicht mehr. Für mich ist nun eine Zeit der Besinnung gekommen. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich grün wählen kann im März 2016 – und mit diesem Wissen kann ich weder Parteirat bleiben – noch erneut kandidieren. Ich habe mit mir gerungen, ein ganzes Jahr lang. Der jetzige Schritt ist überfällig. Ich danke für Euer Vertrauen, danke für Eure Unterstützung. Ich glaube, für mich ist die Zeit gekommen, mehr Dinge konkret zu tun.
Malsch, 13.09.2015