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Arztversorgung oder warum ist die Notaufnahme so voll?

Am Montagabend habe ich mich im Training am Knöchel verletzt. Wir haben im Karatetraining mit einem Dummy Tritte und Schläge trainiert und beim Ushiro Geri
– einem Rückwärtstritt – traf ich  diesen etwas ungeschickt und der Schmerz fuhr mir sofort ins Bein. Ich musste das aktive Training beenden.
Ich hatte dauerhaft Schmerzen und Dienstag früh konnte ich kaum mehr gehen. Trotzdem humpelte ich zur Arbeit. Ich versuchte von dort aus, bei meinem Orthopäden einen Akuttermin über die Homepage zu buchen. Angebot: 20. Oktober. Also unternahm ich den Versuch, anzurufen. Im Ergebnis saß ich 30 Minuten in der Warteschleife – und konnte trotzdem keinen Kontakt zur Praxis herstellen. Zum Glück kann ich bei meiner Arbeit Homeoffice machen – ging also in Richtung nach Hause und fuhr zuvor noch beim Orthopäd*in vorbei. So wie früher, als es noch kein Telefon  gab. Ich erklärte meine Situation. Termin sei wirklich erst im Oktober möglich. Ich schaute sie an, sagte: „Ich habe jetzt Schmerzen, der Fuß wird jetzt dick, es kann sein, dass der Knochen betroffen ist. Meine Frau hat mir heute früh um 4 Uhr einen notdürftigen Tapeverband gemacht, sodass ich zumindest humpeln kann, aber das ist ja keine Lösung. Dafür ist sie als Ergotherapeutin nicht ausgebildet. Ich bin sicher, der Knöchel müsste geröntgt werden.  Wenn Sie mir einen Termin im Oktober anbieten, dann muss ich in die Notaufnahme ins Städtische Klinikum. Das sollen wir ja aber alle auch nicht machen, weil die überlastet ist. Die Notaufnahme im Diakonissenkrankenhaus, die ich in Anspruch genommen hatte, wenn ich mal eine brauchte, gibt es nicht mehr“.
Sie schaute mich an – und schob mir dann am nächsten Tag einen Termin mit Wartezeit zwischen rein. Die Wartezeit war dann zum Glück nicht so sehr lange und ich traf eine Bekannte, mit der ich mich unterhalten konnte, einen alten Schulfreund und hatte für alle Fälle noch ein Buch in der Tasche – das ich dann gar nicht brauchte.
Fakt ist: wir haben zu wenige Kassenärzte, einen Termin zu finden, grenzt an ein Glücksspiel, akute Beschwerden werden oft nur noch in der Notaufnahme behandelt. Von Versorgung bei psychischen Erkrankungen ganz abgesehen. Da ist es noch schlimmer, als ich es selbst am eigenen Leib 2006 erfahren musste.
Das ist von der kassenärztlichen Vereinigung so gewollt, die ihren Sicherstellungsauftrag schon lange nicht mehr erfüllt.
Die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen (KVen/KZVen) sind verpflichtet, die vertragsärztliche Versorgung der Versicherten nach Gesetz, Satzung und Vertrag sicherzustellen. Hierfür müssen sie ein qualitativ angemessenes, örtliches und jederzeit bedarfsdeckendes und wirtschaftliches Versorgungsangebot einschließlich eines Notdienstes bereithalten. Die KVen sind dazu verpflichtet, Strukturfonds zu bilden, aus denen sie Fördermaßnahmen – wie etwa den Sicherstellungszuschlag – finanzieren, um die Versorgung in unterversorgten Regionen sicherzustellen.
Pro Planungsbereich und Arztgruppe gibt es eine Verhältniszahl, die über den aktuellen Zustand der Versorgung informiert. Um die Verhältniszahl zu ermitteln, werden die bereits zugelassenen Mediziner in Relation zur Einwohnerzahl gesetzt. In der GBA-Richtlinie steht für jede Arztgruppe eine sogenannte Sollzahl, die festlegt, wie viele Mediziner es im Optimalfall geben sollte.
Und diese Verhältniszahl – die stimmt nicht. Wir haben hier im Ort mit knapp 15.000 Einwohnern zu. B. keinen Orthopäd*in. Keine*n Augenärzt*in. (und da man da eh keinen Termin bekommt, geht man halt zum*r Optiker*in und bezahlt dann den Sehcheck selbst, sofern man sich das leisten kann.
Und von der Politik, die an der Stelle nicht eingreift. Die den Numerus Clausus für Ärzte nicht senken möchte oder es zugewanderten Ärzten nahezu unmöglich macht, hier als Ärzt*in zu arbeiten. Von den Wissenschaftsminister*innen, die in ihren Bundesländern zu wenige Studienplätze anbieten – weil das Medizinstudium eines der teuersten ist.
Denn Studienplätze in Medizin gehören zu den teuersten überhaupt. Die Kosten liegen laut Statistischem Bundesamt bei rund 32.000 Euro im Jahr. Dagegen kosten Studienplätze für Mathematik nur rund 10.000 Euro, das Studium eines Sprach- oder Kulturwissenschaftlers schlägt mit rund 5000 Euro zu Buche.
Und es ist ja nicht so, als hörte man das nicht im sozialen Umfeld andauernd. Die Kosten für Gesundheit seien „aus dem Ruder gelaufen“. Man müsse sparen. Anstatt schlicht und ergreifend das Grundgesetz erst zu nehmen, nachdem wir alle das Recht auf Gesundheitsversorgung haben. Wir erinnern uns, dass man mit der Praxisgebühr versucht wurde, die Leute davon abzhalten, wegen jedem Wehwehchen zum Arzt zu gehen. Die berühmten Omas, die nur zum Arzt gingen, damit sie jemanden haben, der mit ihnen spricht. Leute, die „unnötig“ zum Arzt gingen – soe die Behauptung der Politik.
„Mit der Einführung der Praxisgebühr im Jahr 2004 sollte vor allem das Ziel erreicht werden, die Anzahl der unnötigen Arztbesuche zu verringern“, heißt es dort. „Studien, die einen längeren Zeitraum betrachten, kommen zu dem Ergebnis, dass die Praxisgebühr die Inanspruchnahme von Ärzten ab 2005 nicht signifikant beziehungsweise nicht nachhaltig gegenüber dem Niveau vor 2004 gesenkt hat.“ Nachhaltig gestiegen ist hingegen der Bürokratieaufwand: Circa 200 Millionen Mal wurde die Praxisgebühr der Regierung zufolge im Jahr erhoben. Kosten für diesen bürokratischen Aufwand: 330 Millionen Euro.
Also gingen die Leute doch wohl eher zum Arzt, weil sie einen brauchten. Da aber die (rot-grüne) Praxisgebühr das einzige Mittel war, dass man sich damals einfallen gelassen hatte – blieben die nötigen Schritte aus, um die Versorgung der Bürger*innen in diesem Land mit Gesundheit zu gewährleisten. Man behauptet, die Arztdichte wäre ausreichend – aber das ist sie offenbar nicht. Gesundheit kostet Geld und dieses Geld muss aufgewendet werden. Womit wir unter anderem dann auch wieder beim Thema „Bürgerversicherung“ wären. Wenn alle, die Einkommen haben, sich an der Finanzierung einer Krankenversicherung für alle beteiligen würden, wäre das Problem nicht da oder weit weniger eklatant.
In der aktuellen Debatte um eine Gebühr für die Notfallversorgung allerdings fallen auch solche Sätze:

Ein Problem sei aber auch, dass es Eltern vielfach an Gesundheitskompetenz fehle, um selbst mit einfachen Erkrankungen umgehen zu können. „Hier müssen wir ansetzen und die Eltern aufklären und unterstützen.“

Tatsächlich haben Studien ergeben, dass gut die Hälfte der Bevölkerung Gesundheitsinformationen nicht wirklich verstehe, bewerten oder umsetzen kann. Und daran lässt sich sicher nichts im Handumdrehen ändern.

Bildung. So wichtig.

Lauterbach, die Ampel muss handeln. Die Minister*innen in den Ländern müssen handeln. Aber da warten wir vermutlich auch ewig, bis der was tut. Oktober vermutlich – im nächsten Jahrzehnt.
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