Ich arbeite bei einem Bildungsträger, der Maßnahmen für Jobcenter und Arbeitsagentur und die Rentenversicherungsträger durchführt. Zu Anfang diesen Jahres gab es eine deutliche Kürzung im Berich der „Arbeitsgelegenheiten mit Aufwandsentschädigung“ – den sogenannten 1-€-Jobs (wobei es in Karlsruhe 2 € gibt). Die Kürzung umfasst 70% zum bisherigen Stand, das Jobcenter Karlsruhe wird darüber hinaus um weitere 25% kürzen. Das bedeutet für uns, das wir innerhalb kürzester Zeit knapp 50% weniger Menschen in diesem Bereich zu betreuen haben. Ein kräftiger Aderlass und nicht leicht von heute auf morgen zu stemmen. Wir sind ein kreativer Verein und haben schon begonnen, uns zu diversifizieren – also neue Geschäftsbereiche zu gründen – insofern habe ich wenig Angst vor einem Arbeitsplatzverlust. Zudem ist mein eigener Bereich (noch) nicht betroffen. In der gesamten Branche allerdings ist die Situation alles andere als rosig. Letzte Woche konnte man es in der taz lesen:
Die Trägerlandschaft des zweiten Arbeitsmarkts wird 2011 schrumpfen. „Es ist mit vielen Entlassungen zu rechnen“, befürchtet Haberkorn, „solche Kürzungen in so kurzer Zeit gab es noch nie“.
Und wer ein bißchen googelt findet viele weitere, ähnliche Meldungen aus dem gesamten Bundesgebiet.
Hintergrund sind natürlich die gesunkenen Arbeitslosenzahlen. Aber stimmen die denn so? Und was sind die Konsequenzen?
Nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamts hatten 2010 im Durchschnitt 40,37 Millionen Männer und Frauen, die in der Bundesrepublik wohnten, einen Job und galten als erwerbstätig. Dies bedeutete gegenüber 2009 einen Anstieg um 197.000 oder 0,5 Prozent. Auch der bisherige Höchststand mit 40,22 Millionen Erwerbstätigen aus dem Jahr 2008 wurde damit übertroffen.
In einer Antwort auf eine Anfrage der LINKEN bietet sich mit den Zahlen aber ein etwas anderes Bild:
- rund 800.000 Menschen sind in den letzten 5 Jahren aus dem Erwerbsleben aus Altersgründen ausgeschieden.
Das ist durchaus realistisch. Ich erinnere mich aus der Diskussion um die Agenda 2010, dass man davon ausging, dass sich der Arbeitsmarkt ab 2010 aufgrund genau dieser jetzt eingetretenen Sachlage entspannen würde.
- das Arbeitsvolumen ist um ca. 1,8 Millionen Arbeitsplätze gesunken.
Das bedeutet, das die vorhandene Arbeit auf mehr Stellen verteilt wird, es gibt mehr Teilzeitstellen bzw. nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Laut meiner Erfahrung stimmt das durchaus. Nehme ich beispielsweise den Beruf einer Verkäuferin bzw. einer Einzelhandelskauffrau im Lebensmitteleinzelhandel. Früher umfasst der Beruf alle Tätigkeiten in einem Supermarkt, von Warenannahme, Regale putzen, Ware bestellen, diese einräumen, das Lager mit verwalten, Kunden bedienen usw. usf. Heute trifft man sehr wenige VerkäuferInnen in Lebenmittelläden an. Thekenverkäufe sind selten geworden, Fleisch, Wurst, Käse, Obst und Gemüse usw. werden in Selbstbedienungsverpackungen angeboten oder es gibt Selbstbedienungswaagen. Unternehen wie SIG Retail bieten Jobs an, bei denen Aushilfen auf 400-€-Basis täglich die Waren in Lebensmittelläden verräumen. Und obwohl es die ganze Woche etwas zu tun gibt, werden die Leute nicht fest eingestellt, sondern nur auf geringfügiger oder Teilzeitbasis.
- die atypische Beschäftigung wächst
also wie am Beispiel beschrieben Nebentätigkeiten oder auch Zeitarbeit und prekäre Freiberuflichkeit. Damit nicht genug, sind diese Jobs oftmals noch mit Niedriglöhnen behaftet. In meiner Branche verdient man freiberuflich bis runter auf 10 € die Stunde brutto. Davon müssen alle Versicherungen und alle anderen Kosten selbst bezahlt werden, Feiertage gibt es nicht und Urlaub auch nicht, Vorbereitung und Fortbildungen sind ebenfalls Privatsache. Wer krank wird, hat Pech gehabt – die Aufschläge bei der gesetzlichen oder privaten KVs für Ausfalltage sind selbst noch bei 14 € unbezahlbar. Hinzu kommt, dass man oftmals für eine Vollzeittätigkeit keine Aufträge hat. Ein Mindestlohn wurde ebenfalls abgelehnt. Wie man unter den Umständen Qualität garantieren möchte, bleibt ein Geheimnis der Arbeitsministerin.
Die LINKE schreibt:
Die „Arbeitsmarkterfolge“ sind nicht das Ergebnis neuer Jobs, sondern der Aufsplittung von Arbeitsplätzen in kleine Teilzeit- und Minijobs. Für viele Beschäftigte und ehemalige Erwerbslose entpuppt sich das angebliche Jobwunder so als ein Alptraum, denn sie finden nur noch Teilzeitstellen, und können von ihrer Arbeit kaum leben.
So ist das wohl. Zwischenzeitlich tendiere ich beinahe ebenfalls dazu, zum alten System zurückkehren zu wollen – ALG 1 und 2, dazu Sozialhilfe – allerdings mit Zugang der Sozialhilfeempfänger zum Arbeitsmarkt.
Die Kürzungen
Standen im Jahr 2010 noch insgesamt 6,6 Milliarden Euro für Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung, werden es in 2011 nur noch 5,3 Milliarden Euro sein. Diese reale Kürzung um 1,3 Mrd. € wird auch damti begründet, dass es weniger als 3 Mio. Arbeitslose gäbe. Das ist schlicht falsch.
Fakt ist, dass ausweislich der Daten der Bundesagentur für Arbeit im Oktober 2010 insgesamt mehr als vier Millionen Menschen ohne Job waren. Die Gründe, warum eine Million Arbeitslose in der offiziellen Statistik nicht auftauchen, sind vielfältig: Sie werden von Privaten vermittelt, sind älter und haben lange kein Jobangebot bekommen, nehmen an einem Bewerbungstraining teil, sind in einem Ein-Euro-Job oder sind am Stichtag krank gewesen.
Und das Gesamtbild wird am Ende fatal, wenn nicht nur mit falschen Zahlen operiert wird, sondern diese falschen zahlen als Begründung herhalten, um damit Kürzungen zu begründen, die diejenigen treffen, die sie am meisten benötigen. Eine solche Kürzung bedingt, dass man nur noch diejnigen in Maßnahmen zuweist, bei denen ein kurzfristiger Erfolg möglich ist.
Die Integrationsquote für Langzeit arbeitslose in den Arbeitsmarkt will die BA um sieben Prozent steigern. Ist das realistisch?
Dieses Ziel steht im ungeheurem Widerspruch zu den geplanten Einsparmaßnahmen. Ich befürchte, dass die Integrationsquote nur zum Schein mit statistischen Effekten erreicht werden wird. Nach Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung ist die Verweildauer von Langzeitarbeitslosen in neue Jobs sehr gering. So lässt sich trotz hoher Vermittlungsquoten kein dauerhaften Erfolg erzielen.
so Brigitte Pothmer. Viele Langzeitarbeitlose sind auf eine Förderung angewiesen, wenn sie wieder Arbeit finden. Ein Beispiel aus meiner Praxis: eine Frau, Anfang 50, findet nach erfolgter Rehabilitation nach einem Hirnschlag wieder Arbeit. Ihre Leistungsfähigkeit ist auf ca. 30 % eingeschränkt. Der Arbeitgeberwürde sie weiterbeschäftigen, aber nur mit einer entsprechenden Förderung, denn diese 30% bringt sie. Diese Förderung ist nach § 16, SGBII vorgesehen. Die Förderung wird trotzdem eingestellt – mit der Begründung, der Fördertopf wäre leer. In einer Anfrage unserer grünen Bundestagsfraktion dazu heißt es aber:
Erkenntnisse über Leistungsberechtigte, die in diesem Jahr trotz vorliegendem Bedarf nicht mehr mit Maßnahmen [..] gefördert werden können, liegen dem Bundesministerium nicht vor.
Nun, da das Jobcenter das veranlasst hat, ist das kaum vorstellbar. Hier wird bewusst das Parlament belogen. Viele Langzeitarbeitslose benötigen eine gewisse Zeit, bis sie wieder mit dem Arbeitsleben zurecht kommen. Nach Krankheiten oftmals nie mehr mit 100 % Leistungsfähigkeit. Diese Menschen nicht mehr zu fördern bedeutet, ihnen zusagen: wir brauchen dich nicht mehr, dein Beitrag ist nicht mehr gewünscht. Das entspricht nicht dem Sozialstaat, wie ich ihn mir vorstelle. Dabei benötigen viele Menschen darüber hinaus Unterstützung schon in der Bewältigung von Alltagsaufgaben, sei es Gang zu den Ämtern, Verhandlungen mit Banken, Widersprüche gegen Bescheide, Suchen einer Therapiestelle, Abschluss einer Versicherung, ….Das alles mehr und mehr ins Ehrenamt zu verschieben ist zwar eine preisgünstige Alternative – aber negiert den sozialen Auftrag und die Fürsorgepflicht des Staates für seinen Bürger, wie es unser Grundgestz formuliert. Dies ist ein gesellschaftspolitischer Skandal – und leider regt sich dagegen viel zu wenig Widerstand. Viel lieber glauben zu viele Leute den falschen Zahlen der Arbeitsagentur. Die Information, dass es rund 6 Millionen Hilfeempfänger gibt, die muss man suchen. Die hingetricksten 3 Millionen (plus 1 Mio in Maßnahmen, plus 1,8 Mio Arbeitsstunden) – stehen auf der ersten Seite. Und ich weiß nicht, wie Sie das als LeserIn nennen – ich nenne es eine Lüge.