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Klebt euch fest

Nach den Protesten der #Letzten Generation und anderen, ähnlich agierenden Gruppen, der vermeintlichen Verantwortung für den Tod einer Frau, Tomatensuppe und Kartoffelbrei auf Gemälde läuft eine von Medien und konservativer Politik getragene Kampagne gegen dieser Art radikaler Proteste.  In den sozialen Medien findet sich in den Kommentarspalten von Zeitungen, egal wo, ein ganzer Haufen von Meinungen, die große Härte gegen diese Art der Klimaproteste einfordern. In Bayern sind Protestierende für 30 Tage ins Gefängnis gekommen – ohne je ein Gericht von innen gesehen zu haben. Nach dem bayerischen Polizeiaufgabengesetz können Bürgerinnen und Bürger auf Grundlage einer richterlichen Entscheidung bis zu einen Monat lang festgehalten werden, um die Begehung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit oder eine Straftat zu verhindern. (Quelle: br)

„Es tut mir leid, dass wir stören, aber wir müssen stören. Und wir werden nicht aufhören, bis wir Veränderungen erzwingen“

so die Aussage von Aktivist*innen der Gruppe. Und sie haben recht.

Ich bin seit 1986 in der Anti-Atom-Bewegung mal mehr, mal weniger aktiv gewesen. Begleitet hat mich das Thema seitdem immer. Trotz Atomausstieg. Es gab auch damals radikalere Gruppen, die das Umlegen oder Umsägen von Strommasten als eine von mehreren Formen gewaltfreien Widerstandes angesehen haben. Es gab einige Anschläge auf Strommasten

Und noch immer rätseln drei Fahnder, wer hinter den Mastumwürfen der vergangenen Jahre steckte. 1981–1983 gab es durchschnittlich vier Mastanschläge pro Jahr, 1884 waren es schon 13, und 1985, als die Gruppe „Hau– weg–den–Scheiß“ bei Krümmel ihren Zehn–Millionen–Anschlag verübte, kamen noch einmal 11 hinzu. Und die Tendenz ist weiterhin steigend: „Die Prozentangaben der Steigerungsraten fallen inzwischen vierstellig aus“, errechnete das Münchner LKA.

Täter*innen wurden wenige gefasst. Bei den Protesten gegen Atomtransporte wurden Straßen und Eisenbahnlinien stundenlang blockiert, Eisenbahnstrecken „entschottert“. Schon damals reagierte der Staat in erster Linie repressiv. Kriminalisierung von Protesten, die sich nicht mit Latschdemos zufrieden gegeben haben, ist Usus bei den deutschen Strafverfolgungsbehörden. Denn man weiß sehr wohl, dass der gutbürgerliche Deutsche nicht mit solchen Aktionen in Verbindung gebracht werden möchte. Kriminalisiert man, wenden sich Leute ab, die durchaus Sympathien für die Ziele der jeweiligen Gruppe haben. „Friedliche Proteste“ seien immer erlaubt – aber man weiß ja, dass man mit denen selten wirklich etwas erreicht. Vor allem, wenn es gegen die Deutsche Energiewirtschaft und ihre Konzerne geht. Der Protest gegen Wackersdorf konnte am Ende nur erfolgreich sein, weil die Proteste nicht aufgehört haben. „Aufruhr, Widerstand, es gibt kein ruhiges Hinterland.“ Es scheint, als müssten diese Zeiten wieder zurückkommen.

Wenn Klimaaktivist*innen sich auf Straßen festkleben, um den Autoverkehr zu behindern, reagiert der Staat mit ungewöhnlicher Härte. Wenn sich Bauern mit ihren Traktoren aufmachen und selbiges tun, dann findet das Wohlwollen bei denselben Leuten, die die Proteste der Letzten Generation verurteilen. Deutlicher kann man es kaum sehen, wie interessengeleitet die deutsche Politik reagiert. Damals gab es ein Lexikon mit dem Titel „Wer mit wem. In Atomstaat und Großindustrie„, das heute noch antiquarisch erworben werden kann. Es zeigt die Verbindungen von Politik und Energiewirtschaft auf. Robert Jungk wusste:

Seit sich Politik und Industrie dafür entschieden haben, Kernenergie zu nutzen, werde die Gesellschaft in einen „Atomstaat“ verwandelt, in dem das Wohlergeben der Menschen immer mehr in den Hintergrund tritt. Der Autor berichtete etwa von dissidenten Wissenschaftlern, die von der mächtigen Atomindustrie daran gehindert werden, die Wahrheit über Störanfälligkeit und Gefährlichkeit der Atomtechnologie zu verbreiten. Anhand von Beispielen illustriert er, wie Kernkraftwerkbetreiber in verschiedenen Ländern den Bedenken und Ängsten der AtomkraftgegnerInnen begegnen: mit einer Mischung aus Beschwichtigungen, Drohungen, Falschinformationen und dem Verschweigen von Tatsachen.

ER würde sich heute nicht wundern über das, was da heute aus den Stuben der Politiker der Parteien zu hören ist

Dass meine Exfreund*innen von den Grünen zwischenzeitlich zu denen gehören, die aktiven Protest verurteilen, ist dabei eine Fußnote, die deutlich macht, wie sehr sich diese Partei von ihren Gründer*innen entfernt hat.

in prominenter Grüner stöhnte am Freitag hörbar auf. „Sie haben ein berechtigtes Anliegen, und sie fahren dieses Anliegen an die Wand“, sagte er über die Klimaaktivisten von der „Letzten Generation“. „Alle reden übers Kleben und niemand übers Klima.“ Auch Parteichefin Ricarda Lang und Vizekanzler Robert Habeck gingen auf Distanz, und das öffentlich. Dass sich die Wege von Klimaschutzbewegung und Klimaschutzpartei auf so dramatische Weise trennen, ist ein Alarmsignal.

steht bei RND.

Wo zu Beginn Utopien den Weg in eine bessere Zukunft, mit der Erhaltung der Umwelt und einer gleichberechtigten Gesellschaft standen, dominiert heute der sogenannte Realismus, der so wenig mit der Realität vieler Menschen in Deutschland zu tun hat. Und wo früher Mut auch zur spontanten politischen Provokation war, regiert heute die Angst vor einem Shitstorm, der nur noch Provokationen zulassen möchte, die vorher vom Spindoctor genehmigt wurden.

Ich sagte es schon vor einem Jahr: die GRÜNEN von 1980 hätten sich gegen diese farblose und rückgratlose Funktionärspartei, die die GRÜNEN heute sind, gegründet. Ihr sprecht noch von Haltung – während ihr schon die nächste rote Linie überschritten habt.

schrieb ich in meiner Austrittbegründung 2016. Das hat sich bewahrheitet, vollumfänglich – und weiter verschärft. Dass sie dabei die Bewegungen im Stich lassen, die sie auf ihre Posten gewählt haben – das interessiert nicht. Erklären können sie viel, Propaganda, wie wie sie derzeit rund um die Genehmigung der Abbaggerung von Lützerath erleben, wird dafür sorgen, dass die Delle in der Wähler*innenzustimmung relativ klein bleibt und ansonsten ist all das bald wieder vergessen – hoffen sie. Leute, die viele Jahre mitgearbeitet haben, wenden sich ab – aber es kommen weitaus mehr, die pflegeleichter sind. Allerdings ist die Delle nicht so groß, wie sie es bspw. nach 1998 war. Von mehr als 51.000 Mitgliedern 1998 verließen in der Folge der grünen, pragmatischen Politik rund 8000 Menschen die Partei – jeder sechste Grüne, der die Partei als linkes Projekt verstand, ging. 2002 waren es noch 43.000. Aber es kommen halt dann andere. Die berühmten Grünen, die mit dem SUV zum Bioladen fahren, sind keine Legende. Es gibt sie. Die anderen, die mit dem Lastenrad fahren, haben auch viel zu verlieren. Das weiß man, wenn man mal schaut, was so ein Lastenrad kostet. Und wer was zu verlieren hat, der biegt sich.

Das Alarmsignal, dass RND da sieht, ist, dass sich die Klimabewegung vom grünen Weg abbringen lässt, der davon ausgeht, dass die Leute keinen Krach wollen, keinen Lärm, keine Aktionen, bei denen das System behindert wird. Die Funktion der Grünen war nach ihrer Gründung ein anderer als er es heute ist. Heute sind sie dazu da, die Proteste zu kanalisieren, zu befrieden. Fridays For Future ist ein gutes Beispiel dafür. Sie sind brav, geben sich mit Latschdemos zufrieden, wollen keinen Ärger, sondern viele Leute auf die Straße bringen. Das ist auch nötig – aber es reicht nicht. Denn der ruhige, der parlamentarische Weg, der Weg, dass Proteste niemanden behindern dürfen, der reicht halt nicht aus angesichts der Auswirkungen des Klimawandels auf den Planeten bzw. den Lebensbedingungen der Spezies Mensch. Die Verflechtungen der Großindustrie bzw. großen Unternehmen mit der Politik – die gibt es damals wie heute. Und sie haben nach wie vor großen Einfluss.

Die Auswirkungen der Klimakatastrophe sind eklatant. Jede Studie, die neu erscheint, bestätigt die davor und es zeigt sich, dass die Katastrophe schneller voranschreitet, als gedacht, die Klimamodelle zu optimistisch waren.

Im Jahr 2021 hätten schwerwiegende Wetter- und Klimaereignisse in Europa Hunderten das Leben gekostet. Mehr als eine halbe Million Menschen seien direkt betroffen gewesen, etwa durch den Verlust von Hab und Gut. Die wirtschaftlichen Schäden hätten über 50 Milliarden Euro betragen. Bei etwa 84 Prozent der extremen Ereignisse habe es sich um Überschwemmungen oder Stürme gehandelt.

Die wirtschaftlichen Schäden sind für die, die sie verursachen, wenig relevant. Sie sind abgedeckt über Versicherungen, die Energiekonzerne machen riesigen Profit durch die Putins Krieg gestiegenen Preise. Die Menschen, die unter den Folgen leiden, kämpfen jahrelang mit diesen – wie wir bspw. im Ahrtal sehen können. Und auch wenn man 100.000 € ersetzen kann – so kann man weder Leben ersetzen noch Erinnerungen, Fotoalben, Möbel, die erste Schallplatte, das geliebte Bett, in dem man Kinder gezeugt hat. All das ist mit Geld nicht zu ersetzen – aber was interessiert das Konzerne. Ja- aber auch da arbeiten Menschen. Aber anscheinend sind die nie von sowas betroffen. Und die Politik wendet sich ab, will nichts mehr damit zu tun haben. Paradoxerweise aber wählen die Menschen weiterhin die Politiker*innen, die für all das verantwortlich sind.

Und deshalb wird sich nichts ändern. Denn das Versprechen etablierter Politik ist: es wird sich nichts weiter ändern. Ihr könnt weiterhin Schnitzel kaufen, ihr könnt weiterhin Eure Ölheizungen benutzen, ihr müsst nicht damit rechnen, dass auf Eurem Hausberg ein Windrad steht. Klar, ein bisschen was wird sich tun – aber gemach, gemach. Das dauert. Die Wirtschaft-  die muss das abkönnen. Das ist das, was uns dahin geführt hat, wo wir jetzt stehen. Die, die davon profitieren, werden die Folgen wahrscheinlich nicht mehr erleben und offensichtlich ist es ihnen egal, was mit denen geschieht, die nach ihnen kommen. „Nach mir die Sintflut“ – wortwörtlich.

Deswegen: Klebt Euch fest. Ich werde selbst schauen, dass ich so schnell wie möglich ein Aktionstraining mitmache. Ob ich das dann am Ende mit meinen 56 Jahren schaffe – mal sehen. Aber auch Geld spenden werde ich. Damit auch die Gerichtsverfahren und Bußgelder bezahlt werden können. Klebt euch fest. Werft Kartoffelbrei und Tomatensuppe gegen Bilder. Zerstört Wege, sägt meinetwegen Strommasten um. Blockiert Straßen, Bagger. Die Braunkohlebagger könnten ja auch mal nachhaltig beschädigt werden, wenn man sich schon auf ihnen breit macht, wie es Ende Gelände tut. Beschmiert Parteizentralen, beschimpft Politiker*innen, meinetwegen auch unflätig. Holt sie aus ihrer Wohlfühlblase. Die „Letzte Generation – ja, klingt ein wenig nach Endzeitsekte. Wir leben in einer Zeit, die die letzte Möglichkeiten bietet, die Erderwärmung abzumildern. Die, die von der jetzigen Situation profitieren – die werden ziemlich sicher ihre Nischen finden, wo sie und ihresgleichen gut über- und weiterleben können. Ich glaube weniger an einen Zivilisationsbruch à la Mad Max – ich glaube mehr an ein Szenario wie in 2012, wo die, die einen wie auch immer gearteten Nutzen für die Gesellschaft haben, überleben können (und nein, ich meine nicht das viele Wasser und die Schiffe). Und die, die sehr viel Glück haben. Aber viele, viele werden das nicht oder unter nur sehr schwierigen Bedingungen. Das wird nicht heute, nicht morgen passieren. Aber übermorgen und vor allem viel schneller, als wir es uns vorstellen wollen. Denn eines glaube ich auch: wir unterschätzen immer noch das Tempo, mit dem dies alles vonstatten geht. Weil wir die komplexen Zusammenhänge gar nicht überblicken können. Und weil der Wunsch, dass es am Ende schon irgendwie gut werden wird, noch immer überwiegt. Was leider falsch ist. Deswegen: Klebt Euch fest. Woran auch immer.

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Tim

Hallo Jörg,
ich lese dein Blog sehr gerne und hätte eine Rückfrage zu der Zerstörungsaufforderung: Würdest du dies auch politischen Gegnern zugestehen? Mir fällt es schwer eine Zerstörung von Kunstwerken für meine Ziele in Anspruch zu nehmen, da es mir das Herz zerreißen würde, wenn konservative Strömungen für irgendeinen Dreck (welcher trotzdem legitim ist) dies auch tun würden.
Beste Grüße!

Tim

konservative / faschistische Beispiele:
Zerstörung der Handschriftensammlung in Karlsruhe um auf die Zerstörung des Schwarzwaldes durch Windräder aufmerksam zu machen?
Zerstörung von Bildern der Kunsthalle um auf die Zerstörung der deutschen Kultur aufmerksam zu machen?

Und es wurden aus Glück und durch restauratorisches Geschick nur wenig (=historisches Rahmen) an den Kunstwerken zerstört. Siehe: https://www.sueddeutsche.de/politik/letzte-generation-monet-museum-barberini-potsdam-heuschober-kartoffelbrei-1.5682881

Was glaubst du wie viele Kunstwerke in Deutschland zerstört werden müssen, dass man sich in Ägypten endlich auf eine wirksame Veränderung einigt?

Peter

So eine dumme ausrede, mit 56 zu alt für ein training… verweigerer und selbstbeweihräucherer!