mein Lieblingsarbeitgeber ist insolvent

Ich binde mich gerne an Dinge und Personen. Wo ich einmal war, wo ich mich wohl gefühlt habe, wen ich getroffen habe, Ideen, die mir gut gefallen haben, Dinge, die mich glücklich machten, positiv oder auch intensiv auf mein Leben wirkten – ich binde mich emotional an sie. Orte, an denen ich gewohnt habe, muss ich ab und zu besuchen, auch wenn ich Umwege dafür in Kauf nehme. Menschen, die ich mochte, suche ich und wenn ich sie finde, mache ich halt manchmal auch gemischte Erfahrungen. Ich hebe Dinge auf, ganz ohne Sinn, vergesse sie und freue mich aber, wenn ich sie in den Tiefen des Kellers wiederfinde. Wir waren in Urlaub an Orten, an denen ich mit meinen Eltern war. Am Mondsee in Österreich zum Beispiel oder in Ulcinj in Montenegro – wo ich mit 16 Jahren das erste Mal am Meer war – und das erste Mal eine Urlaubsliebe (Katja aus Xanten) fand. Ich fahre regelmäßig an der ersten Wohnung vorbei, die ich mit meiner ersten Frau bewohnt habe – in der Parkstraße in Karlsruhe in einem Hinterhaus. Manchmal halte ich an, oft fahre ich langsam an der Adresse vorbei und schaue in den Hof – und erinnere mich. Nostalgisch nennt man das wohl auch.

Nostalgie bezeichnet eine sehnsuchtsvolle Hinwendung zu vergangenen Gegenständen oder Praktiken. Die Nostalgie kann sich sowohl auf das eigene Leben beziehen als auch auf nicht selbst erlebte Zeiten (so genannte kollektive Nostalgie).

wirft mir Google als Definition aus der Wikipedia aus. Das trifft es gut und insofern bin ich ein hoffnungsloser Nostalgiker. Allerdings gehen mir Menschen auf den Keks, die der „guten alten Zeit“ nachtrauern. Soviel weiß ich: so gut war es nie, wie man denkt. In einem Facebookthread über „früher war alles besser“ schrieb mir eine Frau:

nicht besser ,nur anders ,und das unglaubliche unbeschwerte Lebensgefühl das wir früher hatten

und ich denke, das trifft es für viele ganz gut. Irgendwann wird man halt erwachsen. Vorher haben sich Mama und Papa gekümmert. (ja, ich weiß, das ist jetzt stark verkürzt)

Mein beruflicher Lebenslauf (hier in der Biografie integriert) ist geprägt von Wechseln und beruflichen Neuerfindungen. Dass ich heute wieder, wie zu Beginn meiner Berufslaufbahn, mit Lebensmitteln arbeite (und das hoffentlich bis zur Rente) ist dabei ein schöner Aspekt. Dazwischen war viel los – nicht alles wollte man noch einmal erleben, aber es hat mich auf meinem Weg weiter gebracht.

Im Jahr 2008 kam ich nach einer gescheiterten Ausbildung zum Lehrer und daraufhin folgend einer schweren Depression zu initial e. V. Ich wurde zuerst freiberuflich, dann fest angestellt, als Dozent für alles rund um Bewerbungen eingestellt, gab Office-Unterricht. Ziemlich schnell übertrug man mir zunächst einzelne Coachings, dann, nachdem zusätzlich Projekte eingeführt wurden, die Leitung der Maßnahme. Eines der Projekte war „Der soziale Garten„, in dem für langzeitarbeitslose Menschen mit Brüchen im Lebenslauf  sinnvolle und wertvolle Arbeitsgelegenheiten geschaffen wurden. Ich war teilweise mit „draußen“ im Garten, habe bei Bewerbungen geholfen, Coachinggespräche geführt.

Blick ins große Gewächshaus im Sozialen Garten

 

2017 wurde mir nahegelegt, mir eine andere Arbeitsstelle zu suchen. Die Ansprüche an die in Maßnahmen der Arbeitsagentur beschäftigten Menschen waren gewachsen, mein AdA-Schein und die noch nicht fertige Ausbildung in Transaktionsanalyse reichten nicht mehr. Zudem stand im Raum, den zweiten Standort zu schließen. Meine eigenen Coachings im Bewerbungstraining angewandt, fand ich sehr schnell eine neue Stelle, an der ich auch glücklich bin.

Aber initial hatte mir ja mehr gegeben als nur Arbeit. Initial war der dritte Bildungsträger, bei dem ich arbeitete. Der Unterschied zu den anderen war eklatant. Im Umgang mit den Mitarbeitenden, im Umgang mit den Teilnehmenden. Man tauschte sich aus, wurde in Entscheidungen mit eingebunden, wurde wertgeschätzt, gefördert, es wurde erklärt, Fehler als Chance genutzt, gelernt, Aufgaben über den eigenen Bereich hinaus zugetraut und Verantwortung übertragen, gemocht, auf und in den Arm genommen. Mein sexistischer Ausfall 2015 bedeutete, dass ich mich dort mit meinen vielen Kolleginnen austauschen musste, erklären musste, reflektieren musste. Ein großer Teil der Aufarbeitung, fand dort statt. Ich werde nie vergessen, wie meine Abteilungsleiterin am Ende des Jahres zu mir kam und mir ihre Hochachtung für den Prozess aussprach, den ich durchlaufen hatte. Ohne ihre Unterstützung wäre das auf die Art nicht zu schaffen gewesen.

Meinen allerersten Flug in meinem Leben machte ich im Rahmen des europäischen Austauschprogramms Leonardo, an dem initial teilnahm. Und so gäbe es noch viel mehr Geschichten, die man erzählen könnte.

Mein jetziger Arbeitgeber hat ein Programm, im Rahmen dessen wir Obst an soziale Einrichtungen spenden. Initial bekam für seine Teilnehmenden – nicht im Garten – von uns in der Woche einen Obstkorb mit sogenanntem Ausschussobst für Teilnehmende ihrer Maßnahmen. So kam ich, wenn ich in Vertretung ausnahmsweise mal selbst eine Tour fuhr, regelmäßig immer mal wieder rein zu initial. Manchmal war Zeit für einen Plausch, manchmal nicht. So hielt ich die Verbindung.

Nun ist initial insolvent. Warum, ist hier nicht wichtig.

Mich nimmt das wirklich mit. Ich hab ein bisschen was aus der Insolvenzmasse gekauft – und fühlte mich dabei nicht wirklich gut.

Mit initial verschwindet ein Bildungsträger, bei dem die Menschen, die via Arbeitsagentur oder Jobcenter zu ihnen kamen, im Mittelpunkt standen. Nicht nur der Profit, wie bei anderen. Natürlich musste man finanziell überleben, Gehälter, Miete bezahlen, keine Frage. Aber wer mal erlebt hat, dass bei Bildungsträgern kein Coachingraum zur Verfügung steht, zwei Teilnehmende in einem Raum zusammen gecoacht wurden (Datenschutz!), wer erlebt hat, wie Bildungsträger sich zum Handlager von Jobcentermitarbeitenden machen, in dem sie sehr schnell Fehlverhalten melden, was zu Sanktionen führen konnte – anstatt den Grund für das Fehlverhalten zu analysieren und mit dem Teilnehmenden zu lösen und so vieles mehr – der*die weiß, was verloren ging.

Und das Schlimmste ist wohl der Soziale Garten. Er war und ist es noch, ein echtes Vorzeigeprojekt. Die Stadt sucht Lösungen wie hier im BNN-Artikel zu lesen ist und es bleibt zu hoffen, dass sie eine finden.

Tomatenevent im Sozialen Garten
Urban Gardening – ein Projekt des Sozialen Gartens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn ich dieser Tage an der Augartenstraße vorbei fahre, dann werde ich mit Wehmut auf die Fensterreihe blicken, hinter der sich Karlsruhes bester Bildungsträger befand. Wenn ich ab und an den Obstkorb vorbei brachte, dann ging ich immer auch mit ein bisschen Wehmut die Treppe hinauf, die ich fast 10 Jahre lang jeden Arbeitstag hinaufging, um den Schlüssel für das Büro in der Ettlinger Straße zu holen und später dann, um zu „meinem“ Büro zu kommen. Es wird keinen Anlass mehr geben, das Gebäude zu betreten, vermute ich mal. Ein Weg, den ich so oft gegangen bin, muss ich nicht mehr gehen. Ich kann nicht mehr anrufen, wenn ich jemanden suche – als Fahrer*in, als Mitarbeiter*in in der Produktion. Es waren sicher 10 Leute, die zeitweise beim neuen Arbeitgeber beschäftigt waren, die von initial kamen. Es gibt kein Tomatenevent mehr und es ist so traurig, dass ich es im letzten Jahr wegen Krankheit verpasst habe.

Tschüss initial. Und danke für alles.

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Sonja ROTHWEILER

Das hast du sehr liebevoll und wehmütig geschrieben.Schade für so ein tolles Unternehmen.

Sabine Tamakloe

… ein schöner Nachruf, Jörg. Auch für mich war initial etwas ganz besonderes… im Umgang mit den Teilnehmenden und auch unter uns im Team. Ich nehme viel mit aus dieser Zeit, die mich durchaus geprägt hat.