rufen wir, wenn mal wieder am Ende einer Koalitionsverhandlungen etwas rauskommt, was nicht in den Wahlprogrammen stand. Der Klassiker als Beispiel sind CDU und SPD 2005 und die Frage der Umsatzsteuererhöhung (Mehrwertsteuer in Umgangssprache genannt): Die CDU wollte um 2% erhöhen, SPD nur um 1%, am Ende haben sie zusammen 3% beschlossen. Empörung (zurecht!) allenthalben. In Baden-Württemberg trifft man in dieser Frage immer auf das Beispiel der Zivilklausel, die beide jetzigen Regierungsparteien wollten, die nun aber (leider) nicht kommt.
Das Problem ist und bleibt – man wählt Parteien und Programme – und weiß nicht, wie das Wahlergebnis am Ende aussieht und erst recht nicht, wie der Koalitionsvertrag zwischen den Koalitionen. Das Problem unserer repräsentativen Demokratie ist aber deshalb nicht das Parteiensystem, sondern der Wunsch nach klaren Verhältnissen im Deutschen Bundestag, Verlässlichkeiten und eindeutigen Mehrheiten. An aktuellen Koalitionsverträgen wird es wieder deutlich: es gibt Kompromisse und die haben es ganz schön in sich. Die SPD konnte ihre zwei zentralen Forderungen, die nach dem Doppelpass für alle Migranten und dem Ende des Wahlzwangs bzgl. der Nationalität nicht durchsetzen ebenso wenig wie den Mindestlohn. Oder an einem alten, rot-grünen Beispiel festgemacht: wir konnten uns mit einem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie nicht gegen die SPD durchsetzen, mussten die Kröte der Laufzeitbegrenzung – den sogenannten Atomkompromiss – schlucken. Oder konnten uns in der Frage der Höhe der Hartz-Leistungen nicht durchsetzen – wir wollten die niemals auf Sozialhilfeniveau festlegen.
Insofern ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit des SPD-Mitgliederentscheids gar nicht dumm, keine Provokation und die Unfähigkeit Sigmar Gabriels, auf Marietta Slomkas Fragen auch nur ansatzweise einzugehen, zeugt von großer, fehlender Einsicht in diesen Prozess der Regierungsbildung, der als durchaus undemokratisch empfunden werden muss. Denn ließe man diese Gedankengänge einmal zu und überlegte sich, was daraus folgte – so könnte durchaus ein Update der repräsentativen Demokratie daraus entstehen. Einige interessante Punkte dazu liefert auch die Wikipedia.
1. Warum Koalitionen?
Nach der Bundestagswahl wurden Stimmen laut, die dazu aufforderten, die CDU/CSU (eine faktische Koalition) möge in eine Minderheitenregierung gehen und sich die notwendigen Mehrheiten jeweils suchen. Das würde auch meines Erachtens das Wahlergebnis am besten repräsentieren. Die Regierung würde von der Partei gestellt, die die Wahl gewonnen hat, ihr Regierungsauftrag wäre das eigene Parteiprogramm, über das die Menschen abgestimmt haben und Kompromisse müssten im Parlament gesucht werden. Das wäre eine Lösung.
2. Regierung
Eine Minderheitenregierung könnte einerseits Minister_innen aus dem eigenen Lager berufen, andererseits sich aber auch Menschen aus den anderen Fraktionen suchen. So könnte eine Vereinbarung – kein Koalitionsvertrag – mit einer anderen Fraktion getroffen werden – die Duldung. Für diese Duldung könnten Ministerien besetzt werden, was aber keinen Automatismus bei den Abstimmungen bedeuten müsste.
Man könnte aber darüber nachdenken, dass die Ministerien entsprechend des Wahlergebnisses zu besetzen sind, also jede in den Bundestag entsandte Fraktion mindestens eineN Minister_in stellt. Die Regierung (also das Kabinett) sollte dann nur Entscheidungen mit mindestens 2/3 oder gar 3/4 Zustimmung fällen können.
3. Koalitionsvertrag
Man könnte auch tatsächlich nach einer Wahl die Koalitionsverträge, die verschiedene Parteien miteinander treffen, erneut zur Abstimmung stellen. Dann würde am Ende die Regierung einen Koalitionsvertrag ausführen, über den die Bevölkerung abgestimmt hat. Das ist der Gedankengang, an dem die Kritik von Marietta Slomka greift. Der Weg wäre dann also Wahl/Verhandlungen/Verträge/Abstimmung. Die Regierung stellte dann das Bündnis, dessen Koalitionsvertrag gewählt wurde. Die Regierung wäre an dieses Votum gebunden. Alternativ könnte man auch die Bevölkerung die einzelnen Themen der Wahlprogramm zusammenstellen lassen. Alle Wahlprogramm müssten nach dem gleichen Schema, analog zu den Ministerien, geschrieben sein. Die Bevölkerung stimmt ab, welcher Programmteil welcher Partei zum Koalitionsvertrag wird. Das Ministerium wird entsprechend besetzt.
4. Koalitionen
Analog zur diskutierten Drittstimme, die zählt, wenn die Zweitstimme wegen Nichterreichens der 5%-Hürde verfällt, könnte man Koalitionen/Bündnissse zur Wahl stellen. An dieses Votum wären die Parteien dann gebunden. Es regiert dann das Bündnis, dass die meisten Stimmen hat, auch als Minderheitenregierung.
5. Weitere Formen sind denkbar – sollten sich aber daran orientieren, so gut wie möglich den Wählerwillen abzubilden.
Sehr gut formuliert.
Den gleichen Gedanken hab ich auch schon vor Wochen getwittert.
Das erste AHAerlebniss hatte ich als das TV im Wahlkampf SPDlern Teile des CDU Programms vorlas und umgekehrt. Und beidesmal gab es Zustimmung.
Ich bin froh und tue alles dafür in einem Land zu leben wo wir uns über die richtigen Wege streiten und nicht darüber, wer nicht mehr dazugehören soll.
Soviel,sokurz.
So, nun auch hier und nicht nur bei twitter 😉
Diesen Gedanken, dass die neuen Regierenden alles anderes machen als zuvor versprochen, den hat(te) man doch schon zu oft in allen Koalitionen. Und das ist ja jetzt erst der Koalitions-Vertrag (hier mal KV) und noch keine Gesetze eingebracht geschweige denn umgesetzt, da erlebt man ja auch regelmäßig wieder Überraschungen.
Das große Problem der Kompromisse in KV, die schon vor Beginn der Regierungszeit die eigenen Forderungen abschwächen oder ganz verschwinden lassen. Klar, dass Wähler_innen dann enttäuscht sind, da sie ihre Wünsche und Hoffnungen, die mit dem Kreuz auf dem Wahlzettel verbunden sind, nicht mehr repräsentiert oder sogar verraten sehen.
Und das sollte nicht sein, da sich damit Parteien eigentlich ihre Legitimation nehmen. Daher finde ich es gut, dass du ein paar Vorschläge aufgeführt hast, die das Problem minimieren können.
zu 1.:
Minderheitenregierung und wechselnde den Themen entsprechende Bündnisse. Klingt sehr gut, wenn es funktioniert. Ich befürchte aber, dass das Regierungen in dieser Form relativ schwach sind und Diskontinuitäten (Blockaden, Vertrauensvoten, etc) auf lange Sicht häufige Neuwahlen zur Folge haben könnten. Oft verbunden mit der hoffnungen auf den kurzfristigen Erfolg (ähnlich Schröder 2005). Und mit der Historie Weimarer Republik sind wir da ein wenig gebranntmarkt.
zu 2.:
Finde ich gut, da es verglichen mit 1. die in dem Fall nicht mehr Opposition auch direkt in Regierungsverantwortung nimmt. Damit ist es schwerer, Schuld auf andere abzuwälzen, und es besteht eine geringere Gefahr, dass Opportunist_innen nur auf aktuelle Umfragewerte gucken.
Dadurch könnte man evtl. auch die Wählerstimmen mehr wertschätzen, die für eine Partei eines Kernthemas wegen gestimmt haben, wenn die Partei danach ein Ministerium in diesem Thema erhält.
zu 3.:
KV noch einmal von Bürgern abstimmen lassen klingt schön, aber ich weiß nicht, wie viel das an Mehrwert hätte. Es ist für die Wähler_innen schon anstrengend, die Wahlprogramme zu lesen. Das machen ja nicht einmal alle Parteimitglieder. Ebens so den KV, der wurde ja nicht mal von allen Unterzeichnenden komplett gelesen. Evtl erinnert sich manche_r an Seehofers Kommentar bei der PK nach der Unterzeichnung: „ich kenne eine, die hat ihn [den KV] bestimmt gelesen“
Und wer ist dann wahlberechtigt, alle? Oder nur die, die auch vorher gewählt haben? Kann man dann taktisch in Wahlgang eins nicht/ungültig wählen und abwarten? Quasi 3. und 4. Stimmen-Kampagnen Spannend 😀
Mein Gegenvorschlag: Dem KV rechtlich ein größeres Gewicht geben, klar schwammige Formulierungen bleiben schwammig. Aber mit Auflagen, dass sich der KV nach den Wahlprogrammen richten muss etc. Ansonsten bleibt ein KV was er heute ist. Papier, das man mal lesen könnte, aber pff nich so wichtig.
zu 4.:
In beiden Fällen verfällt der eigentlich Wählerwille. Und einige entscheiden jetzt schon zwischen Not oder Eleden, nach subjektivem Empfinden.
Evtl Absenken der 5%-Hürde, wenn zu viele Stimmen nicht berücksichtigt werden? Also Bsp.: regulär 5%-Hürde. Wenn aber bei der Wahl >10% der Stimmen an „sonstige“ gehen, wird auf 3% abgesenkt -> Dadurch kommen zB bei letzter Wahl zwei Parteien mehr rein und wir haben insgesamt nur noch ~4% nicht vergebener Stimmen.
Ach ja, war das lang. Deswegen auf dem Handy ungemütlich @Jörg 😀