warum muss es immer gleich Verrat sein?

Nikolaus Huss ist sowas wie mein Gegenpart im grünen Bloggerleben. Gerne staatstragend, immer vernünftig und gibt hin und wieder auch mal eine Antwort via seinem eigenen Blog zu meinen Beiträgen hier. Ganz und ganz Realo ist er aber immerhin einer der wenigen, die Meinung schätzen.

In seinem aktuellen Blogbeitrag “ Ist Kretschmann ein Verräter? Oder alle Politiker Kulissenschieber? äußert er sich über den neuen Kretschmann-Deal, mit denen dieser seine Zustimmung zu den neuen sicheren Herkunftsländern – die Maghreb-Staaten – zumindest laut taz begründen möchte. Der Maghreb, muss man wissen, ist im Verdacht, der Herkunftsort all dieser Sexualstraftäter zu sein, die in der Silvesternacht in Köln Frauen belästigten und bestohlen haben. Von dort kommen – so wenige Asylbewerber*innen, dass ihnen das BAMF (PDF) noch nicht einmal ein eigenes Tortenstück des Tortendiagramms widmet.

asyl2015

Aber, die Maghrebstaaten sind eben auch keine sicheren Herkunftsländer.

Die großen Menschenrechtsorganisationen berichten von willkürlichen Verhaftungen und regelmäßiger Folter sowohl in Marokko als auch in Algerien. Bei ethnisch motivierten Unruhen in der algerischen Wüste, die oft Pogromen gleichen, sind Polizei und Gendarmerie alles andere als neutral.

Und in der von Marokko besetzten Westsahara werden diejenigen, die – wohl gemerkt gewaltfrei – für die Unabhängigkeit eintreten, verfolgt, gefoltert und oft mit völlig unhaltbaren Anklagen von Militärgerichten hinter Gitter gebracht.

Natürlich gibt es schon wieder einen Preis, dem man gerne zustimmen möchte. Die Anerkennung für ein paar tausend „Altfälle“ – Huss jubelt:

Altflüchtlinge anerkennen bedeutet Raum für aktuelle Entscheidungen schaffen

Ja, so simpel kann es sein, wenn man Schicksale gegen Schicksale tauscht, Menschenrechte gegen „Entlastung mit Verfahren, die dazu führen, dass Menschen, die sich längst integriert haben, abgeschoben werden“ – was ja an und für sich schon grobes Unrecht ist. Also, man tauscht Unrecht gegen Unrecht und tut so, als hätte man ne Win-Win-Situation.

Huss schreibt weiter:

Das ist der eine Unterschied zwischen den 29 Prozent, die die baden-württembergischen Grünen auf die Waage bringen und den bundesweiten 9 Prozent. Und die 29 Prozent sind nicht eine Maximierung des Wählerpotentials auf Kosten politischer Substanz, sondern lediglich die Entsorgung programmatischen und nicht realisierbaren Überhangs auf Kosten nachhaltiger Vernunft.

Doch, Nikolaus, ganz genau das ist es. Und zwar nicht auf Kosten der politischen Substanz, sondern

  1. dem Kern grüner Politik
  2. dem Kern des Artikel 16 des Grundgesetzes – des Asylrechts

Was hier mit tatkräftiger grüner Hilfe geschieht, ist die Aushöhlung eines Rechts, das unter dem Eindruck Flüchtlinge während und nach dem 2. Weltkrieg geschehen ist.

Für die Politiker und Verfassungsrechtler der jungen Bundesrepublik Deutschland hatte das Asylrecht des neuen Staates eine herausragende Bedeutung. Dies erklärte sich aus der Erfahrung der vorhergehenden Jahrzehnte: Während des Naziregimes hatten Flüchtlinge häufig keinen Schutz im Ausland bekommen. Auch in den Jahren zuvor waren viele verfolgte Menschen in Europa (z.B. Russen und Armenier) schutzlos geblieben.

Von herausragender Bedeutung, geschützt durch Artikel 19 desselben Grundgesetzes:

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

Das findet längst statt. Dieses Recht wird zunehmend verwässert. Winfried Kretschmann ist ein Teil der Koalition der Willigen, die sich nicht nur nicht gegen Fluchtursachen engagiert, sondern weiterhin versucht, Flucht zu verunmöglichen, Signale auszusenden, dass die Tage dieses deutschen Sonderrechts, das als einziges der 18 Kern-Grundgesetzartikel nicht für Deutsche gilt – sondern für alle Menschen außerhalb – Signale, die das Ende dieses Rechts bedeuten können. Ein einmaliger Vorgang.

Diese Artikel dieses Grundgesetzes werden zum zweiten Mal in der Geschichte dieser Republik, wenn sie ihren Wesenskern enthüllen und tatsächlich gebraucht werden, in ihrem Wesen angegriffen. Dass dies ein Grüner tut, ist dabei besonders schmerzlich – denn wer bitte sollte dann noch hinstehen und die Einhaltung dieser Kernartikel einfordern. Stellt man einen in Frage, stehen auch alle anderen zur Disposition. Mit grüner Hilfe werden Umwege über die „sicheren Herkunftsländer“ konstruiert, um ein eigentlich unantasbares Gesetz doch anzutasten. Artikel 19 wird umgangen. Dies berührt den Kern unserer Demokratie.

Das ist das, was Kretschmann und seinen Helfer*innen vorzuwerfen ist. Bösartig dazu die immer wieder wiederholte Behauptung, es wäre doch die „Realität“, dass es so nicht weiter ginge, das man die Flüchtlingszahlen eindämmen müsse. Nun, die Menschen kommen weiterhin. Eine halbe Million sind für dieses Jahr prognostiziert, wir werden sehen, wie viele es am Ende tatsächlich werden. Ich befürchte, dass aus Libyen eine große Zahl kommen werden. Aber halt – das gehört ja zum Maghreb…

Und ein letztes:

Das viel zitierte „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ bedeutet nicht, dass man die Realität negiert. Es bedeutet, dass man die Welt verändern kann und sich nicht mit den Gegebenheiten abfinden muss und sich ihnen anpasst. Die Grünen, in die ich eingetreten bin, wussten das. Die Grünen, für die Kretschmann steht, haben allen Mut verloren und produzieren Sätze wie:

Das ist der eine Unterschied zwischen den 29 Prozent, die die baden-württembergischen Grünen auf die Waage bringen und den bundesweiten 9 Prozent.

Manchen kommt es eben nur noch darauf an, irgendwie zu regieren. Mit welchem Ziel? Den besten Kompromiss zu schließen? Nein, ich finde, man muss immer versuchen, die Welt zu retten. Mit faulen Kompromissen geht das nicht. Nur mit dem Mut und dem Weitblick, die Dinge in ihrem Kern anzuerkennen. Kretschmann ist kein Verräter. Kretschmann hat den Mut verloren – wenn er ihn jemals hatte.

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