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wie dünn die Schicht doch ist

Schau ich mir an, was die letzten Wochen und Monaten in diesem Land passiert ist, kann ich mir beinahe nur noch die Augen reiben. Jedes Jahr, an Silvester, stehe ich am Fenster, schaue aufs Feuerwerk und überlege mir, was das neue Jahr wohl bringen wird. Für mich, für die Welt, was alles passieren wird. Wie in jedem Jahr weiß ich wohl, dass ich es nicht wirklich abschätzen kann, was alles passieren wird. Ich weiß, was ich mir wünsche, persönlich und politisch, und im letzteren auch aus einer grundlegenden menschenfreundlichen, aber auch kämpferischen Haltung heraus – aber die realen Entwicklungen voraussehen  oder erahnen – das kann niemand und ich bin immer wieder überrascht, wie anders es ist, als ich es mir vorstelle.

Im Januar war ich noch damit beschäftigt, zusammen mit anderen #Nokargida aufzubauen. Pegida in Dresden waren auf ihrem Höhepunkt und meine Befürchtungen, dass wir in Karlsruhe, eingedenk der rassistischen Hetzer bei ka-news etwas ähnliches bekommen, waren nicht ganz unbegründet. Es ist gelungen, dem eine starke Gegenbewegung entgegen zu setzen, sodass von Anfang an wenig Kontakt zwischen Bevölkerung und #Kargida, jetzt Widerstand Karlsruhe möglich war und sie isoliert ihre Runden ziehen. Unsere Strategie ist aufgegangen. Zwischenzeitlich ist der Zulauf nicht mehr groß und es sieht so aus, dass es nur noch darum geht, wer den längeren Atem hat.

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Bild dankenswerterweise bei (c) Martin Gommel

Erschreckend ist und bleibt, wie die Politik die Fesseln, die ihr das Grundgesetz anlegt, abwerfen möchte, wie Grundsätze über Bord gehen und so gut wie niemand ernsthaft einschreitet. Noch nicht einmal der Bundespräsident. Im Gegenteil, man sich beugt, im vorauseilenden Gehorsam schleichend und ohne jedwede Moral das Grundgesetz bereit ist, zu schwächen.

Ich bin kein Patriot, ich bleibe grundsätzlich beim Absingen der Nationalhymne sitzen, auch wenn um mich herum ein ganzer Saal aufsteht. Aber ich finde, wir haben ein gutes Grundgesetz, mit vielen richtigen und wichtigen Artikeln, wir haben die internationale Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ratifiziert,  den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Und all das ist in Gefahr.

Ähnlich wie Boris Palmer bei den GRÜNEN (ja, ich denke seltener von „wir GRÜNEN“) geriert sich dabei die CSU als Wellenbrecher. Da wird laut darüber nachgedacht,  Zäune an der Grenze zu errichten  oder man stellt das Grundrecht auf  Asyl in Frage. Die Forderung nach einer Grenzschließung zu Österrreich und einem Aufnahmestopp werden laut. Anstatt sich dem entgegen zu stellen, ist aus der SPD zu hören: man solle die Flüchtlingszahlen begrenzen. Bei den GRÜNEN meldet sich zwar Jürgen Trittin zu Wort – allein: er ist entmachtet, den Ton gibt Kretschmann und eine willfährige Riege machthungriger, stellenhungriger Abgeordneter und  rückgratloser Funktionäre an. Die Grüne Jugend darf ein bisschen provozieren –

doch wen interessiert das schon?

Pegida läuft und die Republik schaut weg. In einem langen Gespräch mit meiner Frau am gestrigen Abend habe ich eine klare Rückmeldung bekommen: ich habe mich radikalisiert und das ist nicht unbedingt gut so. Für mich. Ich finde, es gibt keinen anderen Weg, als gewaltfreie Entschlossenheit. Angstfreiheit. Aber ich kann jeden verstehen, der meint, es müsse dem rechten Mob auf den Straßen ungemütlich gemacht werden.

Ich merke selbst: ich bin kompromissloser geworden. Ich müsste nicht nur aus dem grünen Parteirat austreten – sondern aus der ganzen Republik. Ich schäme mich, dass weggeschaut wird. Ich schäme mich dafür, das in Dresden an einem Samstag 6.000 Menschen für eine Kundgebung und Demo zusammenkommen, die sich gegen die Politik des Zulassens der Rechten richtet, am Montag aber, wenn es nötig wäre, Pegida einzugrenzen, bleiben sie zu Hause. In Bruchsal war es am 26. September das selbe Bild: 900 Menschen feiern ein „WIllkommensfest“ mit Kaffee, Kuchen und Apfelschorle – als es darum geht, die Nazis zu blockieren, sie zu übertönen, bricht der Anmelder von der Gewerkschaft die Kundgebung ab und fordert alle Demonstrierenden auf, sich zurück zum „Festplatz“ zu begeben. Es wären ja „nur“ 10 Rechte (es waren 41)  Diese sprechen offen darüber, dass sie Flüchtende für Sozialschmarotzer halten, die Gegendemonstranten gleich mit. Aus dem unbedingten Menschenrecht auf Asyl wird ein Almosen, wer Asyl begehrt, ein „Asylforderer“. Anstatt sich dem entschlossen entgegen zu stellen, rutschen alle mit nach rechts.  In einem der reichsten Länder der Welt sprechen CDU/CSU und die SPD und die ersten GRÜNEN vom „vollen Boot“.

palmer

Noch verklärt, aber letztendlich ist das genau die Aussage:

Es ist schockierend. Es müsste einen Aufschrei geben. Nicht nur in der grünen Partei, die SPD müsste die Koalitionsfrage stellen, nein, sie sofort verlassen. Stattdessen kleben alle an ihren Sesseln aus Angst, nicht wiedergewählt zu werden, geben sie den Rechten nach – und machen sie so stark. Ja, die CSU hat mit Stammtischparolen jahrzehntelang rechts von ihr fast keine Partei zugelassen – aber das war auch der Tatsache geschuldet, dass sie sich nie einig waren, sich nie zusammengeschlossen haben. Dieses Phase ist vorbei – mit der AfD ist ein Akteur auf der Bühne, der Potential wie die FN in Frankreich hat – und ähnlich radikalgutbürgerlich.

Es wäre an der Zeit, sich zu wehren. Aber ich befürchte, dass – während viele noch sektschlürfend ihr Entsetzen über die Entwicklung äußern, die Schreibtischtäter*innen die Dinge verändern werden. Am Ende, wenn der monatliche Geldeingang auf dem Konto gewährleistet ist und das Theater noch offen hat und samstags Fußball läuft – wird man sich schulterzuckend abwenden von den Menschen, die auf der Flucht sind – ähnlich, wie man es seit Jahrzehnten bei den Hungernden in Afrika tut. Die Forderungen werden weiter demokratiefeindlicher werden – und am Ende ruft die CDUCSU, vereint mit SPD nach einem starken Mann, der all dies umsetzt. Das ist meine Befürchtung, meine Angst. Sehe ich den Umgang der Polizei mit linken Gegendemonstranten, inklusive meiner eigenen Erfahrung, kann einem Angst und Bange werden.

Ich schreib es schon einmal: es ist an der Zeit, den Anfängen zu wehren. Bisher versagt die Mehrheit darin, dieses Zitat allerdings immer auf den Lippen. Ich bekomme eine Ahnung davon, was 1933 passiert ist. Irgendwie hat man sie wohl nicht so ernst genommen. So wie heute Pegida. Was machen wir am Ende mit den Menschen, wenn sie weiterhin hierher fliehen, an unseren geschlossenen Grenzen? Das ist die Frage, die sich jedeR stellen muss. Was passiert, wenn tausende in Aufnahmelager gesteckt werden und anfangen, sich zu wehren? Wann werden die ersten Schüsse fallen? Unmöglich? Wer hätte jemals gedacht, dass Guantanamo möglich ist und nicht geschlossen wird…..

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tauss

Die Zeiten sind durchaus dazu angetan, sich im positiven Sinne des Wortes zu radikalisieren. So geht’s mir durchaus auch.

Allerdings halte ich die Kritik an Bruchsal in Bezug auf die (Anti-) Nazidemo für ungerechtfertigt. Innerhalb weniger Tage wurde ein Bündnis aus dem Boden gestampft und geschätzt 600-900 Bruchsaler(innen) standen (gezählt) 41 Nazis gegenüber. Das halte ich in dieser Stadt durchaus für einen Erfolg, zumal auch die Presse aufwändig und positiv bis hin zum Leitartikel in der Bruchsaler Rundschau kommentierte.

Die Nazis mussten (erneut) zur Kenntnis nehmen, dass sie. im Gegensatz zu deren Annahme, im „rechten“ Bruchsal keine Basis haben. Dies ist ein SEHR wichtiger Erfolg.

PS: Ich selbst war nicht dort, weil wir Mitgliederversammlung der West-Ost-Gesellschaft in Stuttgart hatten, deren Landesvorsitzender ich bin. Aber ALLE Berichte aus dem Bekanntenkreis, die mich erreichten, waren positiv.

PS 2: Ein guter Freund (Betriebsratsvorsitzender) berichtete mir gestern, dass sein eigentlich völlig unpolitischer Sohn zum ERSTEN mal (ohne elterlichen Anstoß) am 26. 9. bei einer Demo war und prompt noch ein Ermittlungsverfahren an den Hals bekam, weil er am Bahnhof zwischen die „Fronten“ geriet. Das hat bei ihm den „Klick“ ausgelöst, sich künftig gleichfalls zu „radikalisieren“. Ist doch auch gut…. 😉

Nikolaus Huss

Mein lieber Jörg,

ich stimme Dir zu, dass die Geschichte derzeit wie ein D-Zug an einem vorbeirast. Fünfundzwanzig Jahre Deutsche Einheit, die feindliche Übernahme des Westens durch den an seiner eigenen Saft- und Kraftlosigkeit krepierenden Osten (meine Lehre: Die Selbstüberschätzung der Politik, das ist mein, „NIE WIEDER“), die Integration von unsichtbaren Migranten, die dann gescheitert sind, wenn sie gedacht haben, wir sind doch alle Deutsche. Aber wir hatten nur eine gemeinsame Sprache, aber längst ein anderes Denken.

Wie ruppig es nach 89 im Osten zuging, kannst Du in Richters 89/90 nachlesen. Es ist schockierend, auch wenn es, teilweise, lustig daher kommt. Aber es ist real. Denn wenn Menschen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dann wird es ernst.

Im Osten mussten Sie schon einmal komplett mit dem Verlust eines Weltbildes zurecht kommen. Im Westen ist uns diese Situation bisher erspart geblieben. Selbst eine kleine Korrektur wie die Öffnung der deutschen Wirtschaft auf Weltniveau, Hartz IV, das viel mehr war (mit allen Verwerfungen, die damit notwendig waren, aber die letztlich doch erfolgreich waren) wird von den Autoren, Rot und Grün, irgendwie verschwiemelt abgelehnt. Weil sie es doch gerne konsensuell gemacht hätten. Aber die Welt ist keine Nachkriegswelt mehr, in der die Gleichungen aufgehen, sondern es ist eine Welt, in der nach oben strebende Weltmächte, China, Indien, Südafrika, Brasilien, mit manchmal korrupten autoritären Systemen und ebenso (oder noch mehr) korrupten demokratischen Systemen ihren Platz bei der Nutzung der Ressourcen einfordern und in der der Westen sich behaupten muss. Mit seinen Werten, ja, und damit, dass er seine Vormachtstellung auf der Welt einfordert (nicht der American Way, High Noon, Revolver ziehen und los, sondern als Vorbild) und den Übergang, andere Länder, Kontinente, Systeme partizipieren zu lassen, maximal moderieren zu können.

So ist die Lage.

Und deswegen ist eine Angela Merkel, die pragmatisch erkennt, was notwendig ist (Gesprächsbereitschaft auf Weltniveau) und die nicht ernst nimmt, was Innenpolitisch los ist, Gold wert. Ein Winfried Kretschmann übrigens auch.

Weil sie verstanden hat, dass eine Rolle Deutschlands auf Weltebene notwendig ist. Und weil sie, in aller Ernsthaftigkeit, daran arbeitet, die Rolle Deutschlands in der Welt (mit menschlichem Antlitz, so zynisch und blöde du das findest) ernst zu nehmen, genauso ernst, wie die Tatsache, dass die Geschäftsgrundlage der westlichen Demokratie nicht der herrschaftsfreie Diskurs von Habermas ist, sondern, erst kommt das Fressen, dann die Moral, die Zufriedenheit der Menschen mit ihrer ökonomischen Lage.

Ich stimme Dir zu, wir kommen in eine sehr raue Wetterlage. Die Bilder, mit denen wir bisher gearbeitet haben, passen nicht mehr. Weil mit der Flüchtlingsfrage unwiderruflich und alternativlos ein Thema nach Deutschland einsickert, das sich nicht von selbst auflöst.

Die Aufnahme vieler Flüchtlinge in einem hochindustriellen, hochkomplexen Deutschland, in dem man nicht einfach sein kann und sein Ding machen kann (indem man seine Arbeitskraft anbietet, notfalls eben billiger als andere), sondern in dem man kaserniert wird und dann eben ein politisches Problem wird, ist nicht ganz so einfach und konfliktlos, wie Du meinst.

Menschen haben Angst. Und auch in Deutschland gibt es viele Menschen, ich weiss, das sind nicht die Grünwähler, schon wegen des hohen Einkommens, die Angst haben. Diese Angst wird von rechten Kräften geschürt. Die spüren, dass das ihre Chance ist.

Auch, wenn es richtig ist, den rechten Rand im Auge zu behalten. Die entscheidende Frage wird sein, wie die Mitte der Gesellschaft mit der Frage der Einwanderung, mit der Frage, dass nichts mehr so sein wird wie vorher (weil wir eben nicht wissen, wie viele kommen werden, 800.000, eine Million, zwei Millionen???), weil die Flüchtlingsfrage auch davon abhängig ist, ob man, und irgendwie braucht man dazu auch Putin, eine Lösung findet für Syrien (und ich sage nicht, dass es unbedingt gut gehen muss mit Putin, dass er die Falschen bombardieren lässt, deutet eher darauf hin, dass es nicht so ist).

Ich stimme Dir zu, die Schicht ist dünn. Das Zeitalter der uneingeschränkten Herrschaft des Westens geht, trotz der technologischen Revolution, die gerade stattfindet, zu Ende. Jetzt geht es darum, ein echtes Selbstbewußtsein des Westens zu entwickeln, das zeigt, dass Demokratie auch dann funktioniert, wenn man nicht dauernd mehr Geld verteilen kann, sondern wenn es darum geht, Kraft aus der Mitte der Gesellschaft zu mobilisieren, Kraft dafür, Privilegien über Bord zu werfen, besser zu werden, für sich und die Gesellschaft ein neues Rollenbild zu finden, mit dem sich die Gesellschaft besser behaupten kann und mit dem sich auch jeder von uns besser fühlt.

Vor diesem Hintergrund finde ich es gut und richtig, dass es Menschen wie Dich gibt, dich sofort immer Alarm rufen, wenn irgend eine rechte Dumpfbacke Stunk macht. Aber vor diesem Hintergrund , meine ich, solltest Du auch darüber nachdenken, dass, nur wenn es den Grünen gelingt, über ihr bisheriges Klientel der staatsanah arbeitenden Erzieher, Ärzte, Pädagogen, Soziologen, Politologen, Juristen hinaus sich ernsthaft gegenüber Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, Wirtschaft zu öffnen, sie eine zukunftsfähige, belastbare, tatsächliche Lösungen entwickelnde (und nicht nur an einzelnen Werten wie Asylrecht festklammernden Balken)
Gesellschaft mitgestalten werden. Und nicht nur als nervende, am Rand stehende, an Klageweiber erinnernde, rechthaberische, aber doch zu eingeschränkt auf die Welt sehende linksintellektuell, ihre eigene ökonomische Lage ignorierende und immer ins Volle appellierende Rolle einzunehmen.

Die Welt ist im Umbruch. Und das ganz brutal. Und unser Wunsch nach Harmonie, nach Ausgleich, den ich ja durchaus mit Dir teile, wird die Welt nicht besser machen. Vorrangig, meine ich, ist es, mal einen Blick auf das ganze Szenario zu werfen.

Vor diesem Hintergrund ist eine Politik, wie es Grüne in ihren Regierungsbeteiligungen in den Ländern machen, Gold wert. Es führt dazu, dass sie verstehen, was der Handlungskorridor ist. Und deswegen stehen auch die grüne Bundespolitik, Cem würde ich da mal ausnehmen, nackt da. Sie rettet sich in ihre alten Befindlichkeiten des Anprangerns und Appellierens und lässt nicht erkennen, dass sie verstanden hat, dass die Grünen, nach ihrem paradigmatischen Sieg, Gramsci würde von politsch-kultureller Hegemonie sprechen, längst anders wahrgenommen werden und, vor dem Hintergrund ihrer Wählerschaft und ihrer potentiellen Unterstützer, aller, die veränderungsbereit sind, eine andere Haltung einnehmen müssten.

Deswegen: Ja, Winfried macht es richtig, weil er darauf achtet, dass der Umgang mit den Flüchtlingen auch gemanagt werden muss. Eine Veränderung der Perspektive ist immer schmerzhaft. Aber im Falle der Grünen ist sie eben notwendig, wenn sie weiter die Vordenker und -macher eines veränderungsbereiten linksliberalen, weltoffenen Spektrums von Menschen sein wollen, die wissen, dass sich die Welt ändern muss, aber sich auch bewußt sind, dass der Weg zur richtigen Lösung ein „Work in Progress“ ist und nicht mit billigen Parolen wie mehr Partizipation (funktioniert nämlich nicht immer), „mehr Politik wagen“ zu meistern ist.

Die neue Ansage ist, die besseren Lösungen zu finden, neugierig zu bleiben, wachsam ja, aber auch mutig. Und auch Fehler zu machen. Und sein Weltbild zu korrigieren.

tauss

Interessanter Ansatz von Herrn Huss, aber wenig weiterführend und schlicht entlarvend:

Auch im Westen mussten „wir“ übrigens nach 45 mit dem Verlust eines „Weltbildes“ zurechtkommen. Vergessen? „Der Schoß, aus dem dies kroch…“, ist noch immer vorhanden.

Die derzeitig schicke inflationäre Verwendung des Begriffs „Verantwortung in der Welt“ und Korrektur des „Weltbilds“ (nebst ähnlichem Gefasel) macht mich zutiefst misstrauisch, wenn man aus (auch grüner) atlantischer Blindheit heraus nicht einmal den Mut hat, beispielsweise die Verantwortlichen für die Flüchtlingsströme zu benennen.

Der Kommentar geht, ganz im grün-schwarz-roten Mainstream, davon aus, dass der Westen automatisch gut ist und seine „Werte“ verteidigt und exportieren will. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Manning im Knast und Guantanomo sind die real existierenden i-Pünktchen Versionen dieser verlogenen „Werte“. Hinzu kommt der permanente und beliebige Bruch des Völkerrechts als arroganter Ausdruck westlicher Überlegenheit, sobald es opportun erscheint. Ja: „Der Westen“ will exportieren. Aber doch bitte Maschinen, Autos und gerne Waffen, aber doch keine „Werte“.

Allein, dass die USA in dieser Huss’schen Antwort nicht vorkommen, sondern Putin, spricht für die gesamte Diktion des Kommentars Bände. Putin bombardiert die „Falschen“ während die guten USA offensichtlich nur böse Krankenhäuser und Ärzte bombardieren. Sorry: Die Flüchtlingsströme, auch in der Ukraine, nur dort eben Richtung Osten, sind die Flüchtlingsströme des Westens.

Und allein des Westens, der sich eben „behaupten“ muss. Und nun eben gegen die Flüchtlinge.Genau das ist das Problem. Ihr „Szenario“ und Ihre Sprache, wie das der Cems und Kretschmanns, natürlich auch der Gaucks, können so „wunderbar“ verräterisch und entlarvend, sein werter Herr Huss.

Denn „der Westen“ gibt seine früheren Werte in atemberaubender Geschwindigkeit auf und kann genau deshalb den Diktatoren in aller Welt, außer Kriegen, Finanz- und Wirtschaftskriegen, nichts mehr glaubhaft entgegensetzen.

Das ist das eigentliche, zusätzliche Problem des gesellschaftlichen Rechtsrucks, der die Bereitschaft, den Rest an „unseren“ Werten aufzugeben, erhöht. Da dürften Flüchtlinge gerade recht kommen. Und die Sarrazins gehören, dessen ungeachtet, nicht zu den Unterprivilegierten, die mit den Flüchtlingen irgendetwas, geschweige denn den Job, teilen müssten.

Und natürlich müssen Flüchtlingsströme auch „gemanagt“ werden (dennoch schaudert mich in diesem Zusammenhang die Verwendung des Wortes. Auch Herr Orban „managed“. Und auch der Schiessbefehl an Stacheldraht und Mauer war im Sinne früherer Machthaber eben auch nur Grenzmanagement).

Blieben wir jetzt mal bei der positiven Besetzung des Wortes, hieße es dann aber, nicht 4.000 Leute auf einem Gelände wie in Ellwangen, das für 1.000 vorgesehen war, einzupferchen. Das hieße, dann innerhalb weniger Tage wenigstens winterfeste Zelte, heiße Duschen und zumindest vorübergehend Toiletten organisieren zu können.

Nicht einmal das kann (will?) Kretschmann. Es scheint also Unfähigkeit (oder gar perfide Strategie?) zu sein, die D-Züge aufeinander prallen zu lassen, um dann populistisch nach Abschiebungen zu rufen und diese bei Nacht und Nebel brutal zu vollziehen.

Diese Rechnung der opportunistischen Anpassung an Rechts wird aber nicht aufgehen und schon gar nicht vom Wähler belohnt. Daran sind historisch bereits die Hindenburghs gescheitert. Die heutigen Söders dürften nur die vorlauten Schwätzer und Kläffer sein, dem grüne Realos alsbald leider, dann natürlich in staatsmännischem Ton gemäßigt, folgen dürften, sobald ein paar Mandate in Gefahr sind.

PS: Da sind mir die Rupps, bei aller Kantigkeit, doch lieber: Die sich Nazis entgegen stellen, so lange es eben noch geht, und die nicht davon faseln, wie zunächst Ingenieure als grüne Klientel gewonnen werden könnten (die dürfte früher übrigens nicht mal so gering gewesen sein. Aber schon die hoch qualifizierten (ehemals grünen) Ingenieure gegen Stuttgart 21 hat Kretschmann längst verloren. Und bekommt sie als Wähler auch nie wieder zurück).

[…] stimme Dir zu, wenn Du schreibst, dass die Geschichte derzeit wie ein D-Zug an einem vorbeirast. Fünfundzwanzig Jahre Deutsche […]

Berta Brahmer

@Nikolaus Huss 4. Oktober 2015 um 13:53

Gern habe ich diesen Kommentar gelesen, offenbar weil er dem Bloginhaber so zugewandt daherkommt, auch wenn es mich zwischenzeitlich aufgrund erheblicher Meinungs- und Bewertungsunterschiede zum Herrn Rupp doch des öfteren fast wie „liebe Zynik an einstige Freunde“ beschlich …

Ja,gern habe ich den Nikolaus dennoch gelesen, es klang so belesen, geläutert von der Größe der Großen Politik, so voll Einsicht nehmend in etwas, was niemand sonst fand bisher: Die Strategie der „GK“, der „Grossen Merkelei“, denn nur mit „Willkommen“ kommt man eben nicht zum Friedensnobelpreis, da müssen andere (!!) schon ein bischen mehr ackern, damit vom „Willkommen“ am Ende nicht nur noch das „will“ übrig bleibt.
Und was das grüne Potenzial angeht – wie soll denn das gemeint sein:
„nur wenn es den Grünen gelingt, über ihr bisheriges Klientel der staatsanah arbeitenden Erzieher, Ärzte, Pädagogen, Soziologen, Politologen, Juristen hinaus sich ernsthaft gegenüber Ingenieuren, Naturwissenschaftlern, Wirtschaft zu öffnen, …“ ja was lese ich denn da, soll das heißen, das grüne Potenzial besteht nur noch aus den besserverdienenden Berufsgruppen, die sich allein deshalb „grün leisten“ können?
Das halte ich für eine extrem schwache Brücke, über die ich nur ungern laufen möchte.

Und der „Pragmatismus der Angela Merkel“ – ja hat schon je jemand mit Pragmatismus Menschen begeistert? Wie lange – falls doch – ein solcher Pragmatismus anhält, sehen wir noch immer an den Ost Bündnis-Revoluzzern – wo sind sie denn geblieben, die Ost-Bunten?
Damit meine ich nicht wo im Westen, sondern wo im Osten geblieben?
Oder auch soezwas:
„Und deswegen ist eine Angela Merkel, die pragmatisch erkennt, was notwendig ist (Gesprächsbereitschaft auf Weltniveau) und die nicht ernst nimmt, was Innenpolitisch los ist, Gold wert. “
(„Ein Winfried Kretschmann übrigens auch.“?)
So so?
Ich sah da mal noch einen, der das genauso machte, wie du meinst, dass es unsere Angela macht:
Der nahm das, was „innenpolitisch los war nicht so ernst“, sorgte schlagartig und populistisch für „Gesprächsbereitschaft auf Weltniveau“, „erkannte pragmatisch“, dass der Staatssozialismus am Ende ist (allerdings ohne es selber zu verinnerlichen) – und war dann schlicht weg vom Fenster, vom großen Weltfenster – Ein innenpolitischer Suffkopp schob ihn mit breiter innenpolitischer Stütze einfach zur Seite und gar nicht erst auf ein Abstellgleis, damit der Wagen nicht eventuell zurück rollen kann.

Also verehrter Nikolaus, den Nikolaus hat er noch spielen dürfen, „unser Gorbi“, dann war er weg, weil er
„verstanden hat, dass eine Rolle“ seines Landes „auf Weltebene notwendig ist“ und er meinte, sich nicht dem „innenpolitischen Kleinkram“ zuwenden zu müssen…

Gern habe ich deinen Kommentar an den Herrn Rupp, der doch hier meinte „sich radikalisiert zu haben“, schon gelesen, nur so richtig weiß ich nun doch nicht mehr, was ich da gelesen habe, es zerronn mir alles zwischen den Ohren.
Weder fand ich radikales Grün, noch radikale Demokratie (wofür in D berühmte Leute standen), noch kam da überhaupt etwas an, was noch als wenigstens „radikal pragmatisch“ übrig wäre – halt: die letzte Bemerkung stimmt natürlich nicht,
selbstverständlich ist der gesamte Kommentar radikal, aber leider nur radikal – pragmatisch, fast wie von Cem persönlich in seiner unverkennbaren einseifenwollenden schlingernden Art abgespult.

Und wenn ich das so richtig beobachtet haben sollte, ist es genau das, was Herr Rupp so beklagt: keine Radikalität in der Demokratie, nur Weichen auf Vorrat, um gegen eventuelle Abstellgleise gefeit zu sein

Magdeburger Jung

Das was momentan in Deutschland und vorallem in Europa passiert macht mir Angst. Die Stimmung ist so extrem aufgeladen und gereitzt das man das Gefühl hat jeden Tag könnte etwas schlimmes passieren. Sorge macht mir auch das durch Europa ein Rechtsruck geht, so gestern in Polen gesehen. Polen hat weder einen flüchtling aufgenommen bzw. ist es Wirtschaftlich schwach, woher also der Rechtsruck in Polen. Nicht nur Polen sind Richtung rechts gerückt, auch andere Europäische Staaten. Was soll das noch werden? ist die Demokratie am Ende?