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Was auf dem Spiel steht

schreibt Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, in einem offenen Brief direkt an die Bürgerinnen und Bürger im Land. Ich habe ihn unter meinem Kommentar dazu noch einmal hier eingefügt (Kopie aus PDF, daher nicht immer sauber formatiert). Der Brief erschien in vielen Gemeindeanzeigern und ähnlichen Verlautbarungen von Verwaltungen und fand breite Unterstützung unter Ober-, Bürgermeister*innen und Rät*innen.

Im Gemeindeanzeiger in Malsch, im offiziellen Teil, also dem Amtsblatt, fand der Brief ebenfalls Verbreitung. Der Bürgermeister, Freier Wähler, bemerkte, dass er ihn ausdrücklich unterstütze. Soviel öffentliche Unterstützung, fand ich, braucht eine Antwort.

Was droht, wenn wir nicht handeln

Zum Brief des Gemeindtagspräsidenten Steffen Jäger

Unser Bürgermeister unterstützt den im letzten Gemeindeanzeiger veröffentlichen Brief des Präsidenten des Gemeindetags ausdrücklich, wie er schreibt. Über der Zwischenüberschrift „was droht, wenn wir nicht handeln“ plädiert Jäger für eine Reform der öffentlichen Finanzen und fordert den „Mut“, die staatlichen Leistungszusagen zu kürzen. Er findet, dass diese mit den verfügbaren Ressourcen nicht mehr erfüllbar sind.

Seltsamerweise gehen die Forderungen, die er erhebt – es gab ja begleitend das eine oder ander Interview mit ihm – alleine zu Lasten der Bürger*innen. Zu Lasten der Ärmsten. Der Alten. Der Kranken. Derjenigen, die Hilfe benötigen. Den Schutzsuchenden. Hilfe, die man oft genug benötigt, weil man in eine Krise geraten ist, erkrankt, einen Unfall hatte, Pech. Das Versprechen, das Artikel 1 des Grundgesetzes auf ein Leben in Würde und Artikel 2 auf körperliche Unversehrtheit – die gelten nicht mehr, wenn es nach Jäger und Bechler geht. . „Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er durch Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung als öffentlich-rechtlicher Pflichtversicherung für den Krankenschutz eines Großteils der Bevölkerung Sorge getragen hat (sagt das Bundesverfassungsgericht). Sie dagegen nennen es „Das Grundgesetz war nie als Schönwetterverordnung gedacht“ um Forderungen nach Kürzungen im Sozialbereich zu verkünden. Abverlangt wird uns allen etwas – so formuliert es Herr Jäger mit ausdrücklicher Unterstützung des Bürgermeisters. 

Nur – wieso richten sie sich an die Bürger*innen? Weil, das muss man klar erkennen, unter der neuen Regierung unter Friedrich Merz alleine diese für die Versäumnisse der Vergangenheit bezahlen sollen. Da ist zum Beispiel die Vermögenssteuer. Die wurde 1997 ausgesetzt – von einer CDU-Regierung, weil der Wert von Grundstücken und Immobilien längst nicht mehr angemessen berechnet wurde. Das sollte nach der Grundsteuerreform endlich behoben sein und daher könnte (spätestens) seit diesem Jahr (also 28 Jahre später) wieder die Steuer erhoben werden, eine Steuer, die in den 1990er Jahren immer 0,2% des BIP eingebracht hat bzw. nach Schätzungen 15 bis 25 Milliarden Euro jährlich in die Kassen der Länder bringen. Denn die Vermögensteuer ist ein Ländersteuer. Zugunsten der Bundesländer und damit auch der Kommunen. Kein Wort von Herrn Jäger oder Herrn Bechler dazu.

Auch die Erbschaftssteuer bleibt unvollendet. Nach wie vor verstärkt sie Ungleichheiten. Wenn jemand ein Mietshaus mit 13 Wohnungen erbt, in dem er auch selbst wohnt, bezahlt er darauf Erbschaftssteuer. Erbt er jedoch 300 Wohnungen, dann sind die Betriebsvermögen – das man steuerfrei übertragen kann. Solche Ungerechtigkeiten und mehr wurden immer wieder von Gerichten angemahnt, allein – die Politik bleibt untätig. Zur Praxis mit den 300 Wohnungen sei gesagt: der Bundesfinanzhof hat das moniert. Die obersten Finanzbehörden wollten das jedoch nicht umsetzen und erließen einen „Nichtanwendungserlass“ der bis heute gültig ist. Noch eine Quelle für staatliche Einnahmen, die staatliche Leistungszusagen erschwinglicher machen würde. Kein Wort dazu von Herrn Jäger und ausddrücklich keines von Herrn Bechler.

Viele weitere Möglichkeiten, Steuern einzunehmen, werden nicht wahrgenommen. Während Leute wie Herr Jäger (und Herr Bechler) gerne Menschen im Bürgergeld und hier Schutzsuchende von Leistungen abschneiden wollen, sind in diesem Land Milliarden, mit mittels CumEx und- CumCum-Steuernhinterziehungen möglich waren, weiterhin nicht in staatlichen Händen. Der Gesamtschaden beläuft sich auf mindestens 28,5 Milliarden €, die noch immer nicht zurückgeholt wurden. Mindestens. Wie lange könnte man damit die Menschen, die in Armut leben, unterhalten? Stattdessen erleben wir von der Bundesregierung, Landesregierungen, Herrn Jäger und Herrn Bechler eine Kampagne gegen Bürgergeldbeziehende, die, trotz erneuter gestiegener Lebenshaltungskosten, erneut eine Nullrunde hinnehmen müssen. So sind für „Verkehr“ im Bürgergeld 50,49 € vorgesehen – das Deutschlandticket kostet ab 1.1.26 allerdings 63 €. Die Differenz geht zu Lasten anderer Lebensbereiche. So verzichtet die Hälte der Eltern im Bürgergeldbezug zugunsten ihrer Kinder auf Essen, wie eine im Sommer veröffentlichte Studie offenbarte. Ich vermute, die Kühlschränke von Herrn Jäger und Herrn Bechler sind immer gut gefüllt. 

Auch die Finanzkontrollere der Finanzämter sind nach wie vor nicht ausreichend, auch hier gehen dem Staat Milliarden durch die Lappen. Aber wehe, man bekommt als Bürgergeldbeziehende 100 € zu Weihnachten geschenkt. Die will der Staat ggf. zurück. Und Sie wissen ja: Jobcenter sind kommunale Behörden – also die Herrn Jäger und Bechler sind damit mit verantwortlich. Über andere Steuerprivilegien wie Dienstwagen- oder Dieselprivileg muss man da gar nicht mehr sprechen. Über die Parteikollegen von Herrn Jäger wie Jens Spahn oder Andreas Scheuer, die Millionenbeträge versenkt haben (Spahn alleine 600 Mio mit seinen Maskengeschäften mit guten CDU-Kumpels) sprechen wir hier auch nicht. 

Ich gebe Herrn Jäger und Herrn Bechler recht – das Grundgesetz war nie als Schönwetterverordnung gedacht. Es ist ein Versprechen, das der Staat nicht einhält, weil er bei den Ärmsten knausert und bei den Reichen wegsieht. Das Recht auf Würde, im ersten Artikel, soll weiter ausgehöhlt werden. Migranten, Zuwanderer, Menschen,die vor Mord, Tot, Folter, Krieg hierher flohen, sollen zurückgeführt werden – egal was mit ihnen passiert. Klimaschutz muss „ökonomisch“ sein – wobei man „ökonomisch“ immer so definiert, dass die langfristigen Kosten der Klimakatastrophe ausgeblendet werden. Eltern sollen höhere Kitabeiträge bezahlen, das Mittagessenin der Schule wird teurer, Arztkosten sollen eingeschränkt werden, die Rente wird weiter sinken, das Deutschlandticket wird teurer, Pflegestufe 1 soll abgeschafft werden und so weiter und so fort. (Man könnte jetzt was zu Windkraft schreiben, aber das würde zu lang). Hauptsache, man muss den Reichen in diesem Land nicht ihre Privilegien nehmen. Das ist die Politik, die Herr Jäger (und Herr Bechler ausdrücklich) vertreten. Die, die dafür sorgt, dass die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung über 70 Prozent des Nettogeldvermögens besitzen, während die ärmere Hälfte der Menschen in Deutschland nur ein Prozent dieses Geldes hat. Und so soll es für diese Herren wohl auch bleiben. Denn es wird nicht „uns allen“ etwas abverlangt – sondern nur denen, die keinen Einfluss haben.

Das ist das, was droht, wenn wir nicht endlich handeln.

Der Brief im Wortlaut:

Gemeindetag Baden-Württemberg
Kommunaler Landesverband
kreisangehöriger Städte und Gemeinden

Brief an die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden in Baden-Württemberg zum Tag der Deutschen Einheit 2025
Stuttgart im September 2025
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger,
mein Name ist Steffen Jäger, und ich bin Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg – der Stimme von 1.065 Städten und Gemeinden.
Heute will ich mich auf ungewöhnliche Weise direkt an Sie wenden: nicht nur als Funktions-träger, sondern als Demokrat, als Bürger dieses Landes.
Denn die Lage ist ernst. Das spüren die Städte und Gemeinden. Das spüren Sie. Das spüren wir alle.
Der Krieg in der Ukraine führt uns schmerzhaft vor Augen: Frieden in Europa ist keine Selbst-verständlichkeit. Gleichzeitig verschieben sich globale Machtverhältnisse. Die USA distanzie-ren sich – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere unsere Verteidigung übernehmen. Wir sind selbst gefordert. Wir müssen selbst Verantwortung tragen.
Gleichzeitig geraten wir wirtschaftlich unter Druck. Zwei Jahre Rezession, Standortverlagerun-gen, wachsender internationaler Wettbewerbsdruck: Unsere Volkswirtschaft hat an Schwung verloren.
Wirtschaftliche Stärke ist aber das Fundament für das, was unser Gemeinwesen ausmacht: ein funktionierender Sozialstaat, ein handlungsfähiger Rechtsstaat, eine lebendige Demokra-tie.
Diese Demokratie lebt in unseren Städten und Gemeinden. Hier wird im Schulterschluss zwi-schen Rathaus und Bürgern die Grundlage für das Gelingen unseres Staates gelegt.
Straßen, Brücken, Wasserversorgung, Kitas, Schulen, Feuerwehr, Sport- und Kulturstätten, Vereinsförderung und vieles mehr. Daseinsvorsorge und das gesellschaftliche Zusammenle-ben sind ohne handlungsfähige Kommunen nicht möglich.
Was droht, wenn wir nicht handeln
Die Kommunen sind damit das Rückgrat eines gelingenden Staates. Doch ihre Handlungsfä-higkeit ist gefährdet. Die Kommunalfinanzen sind in einer solch dramatischen Schieflage, dass bereits die Erfüllung der Pflichtaufgaben kaum mehr möglich ist.
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Konkret heißt das: Die Sanierung der Sporthalle, des Kindergartens oder der Schule fallen aus. Investitionen in Klimaschutz oder Klimawandelanpassung werden gestrichen. Die Nut-zungsgebühren steigen, die Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer reichen nicht mehr aus. Frei- und Hallenbäder lassen sich nicht mehr halten, die Vereinsförderung kommt auf den Prüfstand, Öffnungszeiten in Kitas oder auch der Bibliothek müssen reduziert werden.
Keine dieser Maßnahmen will ein Kommunalpolitiker beschließen – doch vielerorts werden sie unvermeidlich.
Geld allein wird dies jedoch nicht lösen. Denn was wir erleben, ist nicht nur eine finanzielle Überlastung – es ist ein strukturelles Problem. Der Staat lebt über seine Verhältnisse – und das seit Jahren.
Die Summe an staatlichen Leistungszusagen, Standards, Versprechen hat ein Maß erreicht, das mit den verfügbaren Ressourcen nicht mehr erfüllbar ist.
Es braucht deshalb eine mutige Reform – strukturell und gesamtstaatlich
Deshalb sind wir als Gesellschaft gefordert, eine strukturelle Antwort zu geben. Wir brauchen eine ehrliche, gesamtstaatliche Reform. Das heißt: weniger Einzelfallgerechtigkeit und mehr Eigenverantwortung. Wir brauchen eine Aufgaben- und Standardkritik, die den Mut hat, Prio-ritäten zu setzen. Und wir brauchen die Bereitschaft, neu zu fragen: Was kann und muss der Staat leisten – und was kann er nicht mehr leisten, ohne sich selbst zu überfordern?
93 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Baden-Württemberg fordern eine konsequente Reform in diesem Sinne.
Doch auch wir als Gesellschaft müssen bereit sein, eine solche Reform mitzugehen. Wir müs-sen beitragen – nicht nur erwarten. Wir müssen vertrauen – in unseren Gemeinsinn, seine Werte und unsere Kraft des Füreinanders. Wir müssen bereit sein, mehr zu leisten – für den Staat, für die Gemeinschaft, für das Gelingen unserer freiheitlichen Demokratie.
Demokratie ist kein Bestellshop – sie ist die Einladung an alle, sich mit ganzer Kraft für eine freiheitliche und wohlständige Gesellschaft einzubringen. Und deshalb kann Demokratie auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn wir alle unseren Beitrag dazu leisten.
Wir brauchen auch Ehrlichkeit in der Migrationspolitik. Integration gelingt dann, wenn die Zu-gangszahlen beherrschbar und auch Mitwirkung und Rückführung ein wirksamer Teil des Sys-tems sind. Wer zu uns kommt, muss unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte achten. Und er oder sie muss auch zum Gelingen von Gesellschaft und Volkswirtschaft beitragen. Eine erfolgreiche und akzeptierte Migrationspolitik muss dies leisten. Dies aber immer auf der Grundlage von Humanität und Verantwortung. Menschenverächter haben keine Lösungen, sie haben nur Propaganda. Wir Demokraten müssen beweisen, dass wir es besser können.
Und auch beim Klimaschutz gilt: Wir können als Deutschland nur erfolgreich sein, wenn unser Weg für andere Staaten ein Vorbild ist – klar im Ziel, ökologisch wirksam, ökonomisch tragfähig und gesellschaftlich akzeptiert.
Das Grundgesetz als unser gemeinsames Fundament
Unser Grundgesetz war nie als Schönwetterordnung gedacht. Es wurde formuliert in einer Zeit, in der unser Land moralisch, politisch und wirtschaftlich in Trümmern lag. Es ist eine der größ-ten Wohltaten, die unser Land je erfahren hat. Und es verpflichtet uns: zur Selbstverwaltung, zur Verantwortung, zur Teilhabe. Zur res publica – zur gemeinsamen Sache.
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Die Gemeinden sind der Ort der Wahrheit, weil sie der Ort der Wirklichkeit sind.
Es gilt, diese Wirklichkeit anzuerkennen und aus der Krise den Mut zur Erneuerung zu schöp-fen.
Und deshalb möchte ich dafür werben: machen wir uns bewusst, was unser Staat, was unsere Demokratie zum Gelingen braucht.
Und dazu gehört zuallererst eine neue Ehrlichkeit und ein nüchterner Realismus: Wir stehen vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. Als Vertreter der Kommunen sagen wir Ihnen die Wahrheit: dies wird uns allen etwas abverlangen.
Ich bin aber davon überzeugt, wir können das meistern; Gemeinsam, mit Mut und Willen.
Mit einer Haltung, die nicht fragt, was andere tun, sondern, was wir selbst beitragen können. Die Bereitschaft, auch dann standhaft zu bleiben, wenn es unbequem wird. Die Chance, dass wir alle auch künftig in einem lebendigen und freien Land leben dürfen, muss uns Ansporn sein.
Und daher meine Bitte: Machen Sie mit. Für unsere Kinder. Für unser Land. Für unsere De-mokratie. Für uns.
In Verantwortung und Verbundenheit,
Ihr
Steffen Jäger

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