Ich habe in der ZDF Mediathek den Film über Hans Rosenthals Leben und die Doku „Zwei Leben“ angeschaut. Beide haben mich sehr berührt – die Doku in der ARD will ich mir noch anschauen.
Hans Rosenthals Dalli-Dalli gehörte zu meinem Kinder- und Jugendlichenleben. Bis ich’s dann in der Pubertät als zu spießig abgelehnt hab. Ich bin mit allen großen Shows aufgewachsen – aber „Hänschen Rosenthal“ und sein „Das war Spitze!“ – das war schon etwas Besonderes in meiner Erinnerung.
Mir ging es, wie in den Dokus gezeigt, auch so wie vielen anderen: ich wusste nicht, dass Rosenthal Jude war, gar engagiert in der Synagoge. Wie in der Doku zu sehen, hat er lange mit sich gerungen, das und sein Leben, die Verfolgung, das Leben im Versteck in der Laube zu thematisieren. Und viele Deutsche wussten es nicht. „Von den Menschen, die mir heute zujubeln, hätten mich vor 30 Jahren einige vielleicht angezeigt.“ wird er im Film zitiert und das stimmt ganz sicher. Seine Zerrissenheit wird gut dargestellt. Ich bin immer noch fassungslos über die Weigerung des ZDF, seine 75. Jubiläumssendung, die am 40. Jahrestag der Reichspogromnacht stattgefunden hat, zu verlegen und ihm so die Teilnahme am Gedenken in der Synagoge in Köln zu ermöglichen, bei der auch Kanzler Schmidt sprach. Ich bin sicher, dass die große Mehrheit der Zuschauer seine verdeckten Botschaften (getragene Musik, Blumen, erstmalig das Datum der Sendung zu nennen) nicht wirklich verstanden hat.
Das war 1978, ich hab die Sendung vermutlich gesehen. 1978, 33 Jahre nach Kriegsende, konnte man noch immer kaum über diesen Krieg, die Nazidiktatur und was sie angerichtet hatten, reden. Es waren noch viele Menschen in Ämter und Würden, die die Nazidiktatur bis ins letzte Dorf zu dem gemacht hatten, was es war. Oder es waren die Eltern, die betroffen waren, die Großeltern – mein eigener Großvater mütterlicherseits war in der SS gewesen, wie ich erst viel später erfahren habe. Man sprach nicht darüber und meine Eltern sowieso nicht. Meine Mutter kämpft bis heute mit den Traumata ihrer Kindheit und Jugend und ich selbst erinnere meinen Großvater als kalten Mann, zu dem die Beziehung aus 5-Mark-Stücken bestand, die wir Enkel in die Hand gedrückt bekamen, wenn wir zu festen Tagen (Neujahr, Geburtstage) bei ihm zu Besuch waren. Interesse an uns hatte er nicht, dass er bei uns zu Besuch gewesen wäre, kann ich nicht erinnern.
Mir wurde erst im Laufe meines Älterwerdens wirklich klar, wie zeitlich nah ich am Kriegsende geboren wurde. Mein Vater hat als 7-jähriger die einmarschierenden französischen Soldaten erlebt, die beinahe seinen großen Bruder verhaftet oder gar erschossen hätten, dessen Reitkleidung mit einer Uniform verwechselt worden war. Dieser Großvater war von meiner Großmutter aus dem Krieg zurück geholt worden, weil sie 3 Kinder hatte und einen kriegswichtigen Betrieb: Fuhrunternehmer und im Nebenerwerb Landwirtschaft mit Tierhaltung. Er sagte immer zu meinem Vater: geh in keine Partei. Es war schwer für ihn in der Anfangszeit, als ich mich politisch zu engagieren begann.
Und obwohl ich nur 21 Jahre, nachdem die Welt die Nazis niedergerungen hatte, auf die Welt kam, 21 Jahre nach der Befreiung vom Hitlerregime – wusste ich doch sehr wenig darüber – bis ich in der Pubertät anfing, mich zu informieren. Was ich allerdings wusste, was mir immer mehr bewusst wurde, war, dass man über die Gräuel nicht sprach, nicht über die Soldaten als Täter – sondern eher als Opfer. Sprüche wie „es war nicht alles schlecht unter Hitler, immerhin hat er Arbeitsplätze geschaffen“ wurden noch offen ausgesprochen (ich hatte eine große Verwandtschaft). Im Gesangsverein, in dem mein Vater aktiv war, konnte man bei Vereinsfesten zu später Stunde nach genügend Bier, Wein und Schnaps durchaus mal das Horst-Wessel-Lied hören. Bei der KJG, in der ich bis zu meinem ungefähr 13. Lebensjahr Mitglied war, fanden sich noch ältere Ausgaben der Mundorgel, gespickt mit Liedern, die rassistisch und diskriminierend waren. Keiner fand es seltsam, das Lied vom „N***aufstand in Kuba zu singen – es war ganz so, wie es die taz in diesem Artikel beschreibt. In meiner Umgebung gab es Sprichwörter wie „der rennt wie ein Salzjud“, Türken waren Kümmeltürken und Italiener „Spaghettifresser“ – offener Kulturrassismus. Und so weiter, und so fort. Die Entmenschlichung von Menschen, die nicht „deutsch genug“ waren, war präsent, war normal.
Die Kultur, die die nationalsozialistische Diktatur genutzt hatte, die sie verstärkt hatte, bis aus Diskriminierung Mord, Folter, Totschlag und Konzentrationslager wurden, die steckte noch immer in der deutschen Gesellschaft. Ich habe vieles als Kind nicht verstanden, als Jugendlicher nur ahnen können und mich später mit manchmal viel Anstrengung mich von geflügelten Wörtern wie „bis zum vergasen“ abgewendet. Sprache schafft Bewusstsein – das wurde mir irgendwann klar. Aber es war ein schwieriger Prozess der Selbsterkenntnis und die Auseinandersetzung mit dem Wissen, woher ich diese Prägungen hatte.
Man sprach nicht darüber. Man schwieg es tot. Viele junge Deutsche wussten nichts darüber, was ihre Eltern oder Großeltern getan hatten. Von der SS-Mitgliedschaft meines Opas erfuhr ich erst spät. Und so ging und geht es vielen anderen Deutschen. Das Land wurde nicht entnazifiziert, kleine und große Naziverbrecher ließ man laufen, wo applaudiert wurde, wurde so getan, als hätte man sich dagegen gewendet. Niemand wollte dabei gewesen sein und die eigenen Eltern soundso nicht. Man schwieg tot, anstatt darüber zu sprechen, sich damit auseinanderzusetzen – dass die deutsche Bevölkerung mitgemacht hatte. Man brachte die Leute nicht dazu, darüber nachzudenken, was 6 Millionen tote Juden aus der Mitte der Gesellschaft, eine halbe Million Sinti und Roma, Behinderte, politische Gegner, ermordet vom Staat, bedeuteten. Was die Entmenschlichung bewirkt hatte, bei allen, die mitgemacht oder schweigend zugestimmt und weggeschaut habe, was die Propaganda in den Köpfen angestellt hatte. Wie diese Gedanken weiterhin die Denke so vieler Menschen mit bestimmte.
„Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD“
ist einem Zeitinterview mit dem Historiker Davide Cantoni nachzulesen. „Man sieht, dass es eine starke Korrelation gibt zwischen den Orten, in denen in den Dreißigerjahren vermehrt NSDAP gewählt wurde, und Orten, in denen heutzutage stärker die AfD gewählt wurde. sagt er.“
Dieses Schweigen ist die Basis für das, was jetzt wieder geschieht, wo die AfD stärker wird, in einigen Umfragen stärker ist als die CDU. Was sie an menschenfeindlichen Bildern, Rassismus, Verachtung für demokratische Prozesse und Schutz von Minderheiten von sich gibt, ist salonfähig – weil es eine ernsthafte Distanzierung zu vieler Deutscher nicht gegeben hat. Nach dem Krieg, nach der Befreiung machte man weiter, als wäre nichts geschehen. Manches wuchs weiter, nicht mehr öffentlich – bis es jetzt wieder Raum und Widerhall findet – auch in den Reihen konservativer Parteien und ihrer Wähler*innen. Parteien wie die SPD und Grünen sind längst mitgekippt, Boris Palmer bspw. ist wieder hoffähig und Cem Özdemir, der denkt, er können Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden, will ihn zurückholen. Die SPD in der neuen Koalition beschließt eifrig menschenrechtswidrige Vorhaben mit. Die Rhetorik hat sich gewandelt in den letzten 10 Jahren – auch weil niemand den Mut hat, die AFD überall kalt zu stellen. Auszugrenzen. Politisch und im eigenen Umfeld. Weil sie überall sind. Hier, wo ich lebe, sind es auch 20%. Ich stehe mit ihnen im Supermarkt an der Kasse, ich bin mit ihnen im Verein, begegne ihnen beim SPazieren gehen und auf Festen sitze ich neben ihnen. Ohne es zu wissen, oft genug. Wer steht auf und setzt sich weg, wenn er das mitbekommt? Wer widerspricht in aller Öffentlichkeit – wenn grad die Wurst und das Bier so gut schmecken und man eigentlich alleine, mit Freund*innen oder der Familie ein gute Zeit haben will? So gut wie niemand.
Es wäre jetzt wichtig, sich mit der Nachkriegsgeschichte und dem deutschen Schweigen zu beschäftigen. Wie konnte ein Mann wie Hans Martin Schleyer Arbeitgeberpräsident werden? Wie Hans Filbinger Ministerpräsident. Wie Martin Jente zur besten Sendezeit Butler von Kulenkampffs „Butler“? Wie die vielen anderen einfach weiter machen – gewusst von so vielen Menschen?
Und was bedeutet das heute für uns? Fehlte einfach der Mut, den Menschen Einhalt zu bieten? Zu sagen: Stopp, du hast so gehandelt. Du kannst diese Aufgabe nicht übernehmen, du hast dich nicht geändert? Wie beeinflusst dieses Damals unser Heute?
Es wird Zeit, dass sich dieses Themas jemand, viele, Presse, Film, Journalisten, Podcaster*innen, Influencer*innen annehmen. Wir müssen JETZT lernen. Und vor allem müssen wir lernen, dass der Preis des Wegschauens die Wiederholung der Geschichte bedeuten kann.
Ein starker Text, und ähnelt in Vielem meinen Gedanken. Musste gerade nachrechnen: ich selbst bin vierzehn Jahre nach Kriegsende geboren. In vieler Hinsicht scheine ich in einer Art Blase aufgewachsen zu sein, heile Welt – etliches von dem, was du schreibst, kenne ich aus meiner Kindheit nicht. Meine Großväter waren, obwohl schon älter, beide in der Wehrmacht (eigentlich Lehrer), was genau sie taten, weiß ich nicht. Nazi-Vokabular wurde gerade von meiner Mutter sofort zensiert – sie wuchs damit auf, war aber eine der ersten, die später Grün wählte, als das noch lange nicht Mode war (etwas zum Entsetzen meines eher konservativen Vaters). Widerstandskämpfer hatten wir aber wohl nicht in der Familie, bei einigen wurde ihre Rolle zu Kriegszeiten auch fleißig totgeschwiegen.
Niemand aber wollte die Schrift an der Wand jedoch sehen, als in den 90er Jahren (von früheren Versuchen der NPD mal nicht zu reden) Rassismus mehr und mehr salonfähig wurde. „Einzelfälle“, „stell dich nicht so an“, „ach was, das ist doch nicht so gemeint“ usw., usw. Dazu trug mit Sicherheit bei, dass die Medien auch keine Gefahr sahen, nicht sehen wollten, nicht entsprechend berichteten. Mit dem Aufkommen des Internets – und ich gehörte in meiner Generation vielleicht zu den intensivsten Nutzern, weil ich mich in den Medien so wenig wiederfand – sah ich immer mehr, las ich zu viel. Ich ging – auch wenn mir niemand glauben wollte, dass diese Bewegung irgendwann mit 20% und mehr im BT sitzen könnte und gewaltigen Einfluss auf die Gesetzgebung haben würde.
Heute – und bei Besuchen in den letzten Jahren – zähle ich in der Straße ab: zwei Wahlberechtigte pro Haus: eins, zwei, drei, vier Häuser – im fünften zwei AfD-Wähler. Meine Mutter, hochbetagt, sagte vor ihrem Tod, was sie neuerdings offen von manchen früher geschätzten Nachbarn höre, wäre unerträglich. Gut, dass sie diese Zeit nicht mehr erleben muss.
Very intricate blog.
Although I grew up in Germany, but after 50 years in the USA, it’s easier for me to express my opinion in Englisch.
Two points stood out to me right away.My mother was born in 37 so she remembered a few snippets. I would often hear.. If Hitler were still in charge, we wouldn’t have so much unemployment. No doubt a saying instilled in her by the Nazi sympathizers.Also the story of my Grandpa being hidden in a featherbed, when they came searching Haus zu Haus. As you mentioned that it was the French searching, I assume it was them. I don’t know why they would do that. Were they looking for SS? As far as I know my Familie was not involved with the Nazi regime.
But I do recall how easy it was for many to say out loud what nowadays would be looked at as racism and hate speech. Though as my mom got older, she would whisper about Jews, either from having learned more about the holocaust and she was ashamed, or not being seen as a bigot.
As we all started out not understanding the significance of this period in our lifetime, it’s unbelievable to me that a whole class of human beings( and I use that phrase loosely) could do such atrocities and so many turning a blind eye.
They say ‘ never forget’ , yet the world is standing by and letting Israel commit genocide in Gaza.whats it gonna take ?? Trump (Biden too) is cheering Netanyahu. Throw more money and equipment their way !
Same with Russia and Ukraine. Vladimir Zelenzky is a brilliant and heroic figure. Again.. when is the world gonna stop this ? It’s all in plain sight.. but we have forgotten about the consequences of this kind of behavior from wanna be dictators.
I never thought I would see this in my life time and unable to stop it.